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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Dunkelheit bricht an. Das Donnern ferner Kanonen wird gedämpfter, klingt aus, verstummt. Eine Geschützbatterie schwenkt auf ein benachbartes Feld ein und protzt ab. Florence und die anderen brechen ihre Zelte im nächtlichen Nebel ab. Dann ist Lärm auf der Straße zu hören. Als sie sich der Straße nähert, sieht sie, dass überall Reiter sind, Kosaken. Sie sieht einen Bauernjungen vorbeirennen und mit gesenktem Kopf im Wald verschwinden. Sie hört Schreie und Lärm. Die Kosaken kämmen systematisch die Bauernhöfe durch, einen nach dem anderen; sie treiben alles Vieh zusammen, das man mitnehmen kann, Schweine, Kühe und Hühner, sie treiben auch alle Männer zusammen und fesseln sie.  46 Florence sieht, wie die Kosaken einen jungen Mann niederringen, während eine Frau schreit.
    Dann verschwinden die Kosaken mit ihrer zwei- und vierbeinigen Beute die Straße hinunter. Als Florence später mit ihrer Einheit ins Dunkel rollt, oben auf ihrem vollbeladenen Pferdekarren, sind noch immer Schreie und Klagerufe zu hören. Es ist eine sternklare Nacht.

46.
    Dienstag, 15. Juni 1915
    Alfred Pollard wartet bei Hooge auf die Dämmerung
     
    Der Tag ist heiß und windstill. Sie tragen volle Kampfausrüstung und haben zwölf Kilometer zu marschieren, bis sie das Ausgangslager für den Angriff erreichen. Anfangs bereitet es ihnen keine Mühe, auf der stets viel befahrenen Straße von Poperinghe nach Ypern entlangzutraben. Sie drängeln sich mit anderen Fußtruppen, mit «Wagen, die von Pferden gezogen, und Wagen, die von Mauleseln gezogen werden, endlosen Munitionskolonnen, schweren Belagerungsgeschützen und Haubitzen, Ketten von Lastwagen, Ordonnanzen auf Motorrädern». Und sie begreifen, dass sie an einem großen Angriff teilnehmen sollen, denn sie sehen sogar Kavallerie, kampfbereit und darauf wartend, dass endlich die vielbeschworene Bresche in die deutschen Linien geschlagen wird, durch die sie dann mit gezogenen Säbeln, pittoresk flatternden Wimpeln und entsprechend dramatischen Gesten einfallen können.
    Es ist Alfred Pollards erster Angriff. Er ist voller Eifer, ja, fast glücklich. Die Monate der Frustration und Enttäuschung sind endlich vorbei. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Krieg seine Erwartungen ganz und gar nicht erfüllt. Er war an Gelbsucht erkrankt, wurde als Simulant verdächtigt (er! simulieren!), hatte als Offiziersbursche und als Koch gearbeitet. Die Frau, in die er verliebt ist, schreibt ihm nur selten. Der Krieg, den er sich zusammenphantasiert hat, stellt sich nicht ein, noch weniger der Heldenmut, von dem er geträumt hat. Aber jetzt – endlich.
    Die Stimmung unter den Männern in der Truppe wandelt sich spürbar, je näher sie der Front kommen. Er kennt das Phänomen:
     
Wenn man die Linien verlässt und sich mit jedem Schritt weiter von Kugeln und Granaten entfernt, ist die Atmosphäre ausgelassen; man hört Gesänge, Scherze werden gemacht, es wird gelacht. Auf dem Weg dorthin wiederum ist die Sache ganz anders. Da herrscht eine ernste Stimmung, Kommentare werden einsilbig erwidert; die meisten schweigen, ganz mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Einige lachen und plappern, wie um zu demonstrieren, dass sie wirklich keine Angst haben, oder um zu verhindern, dass die eigene Phantasie mit ihnen durchgeht; andere tun es, um die Kameraden aufzurichten. Nur wenige verhalten sich natürlich.
     
    Kurz vor der berühmten Stelle, die man Hell Fire Corner nennt, geht die Gruppe auf einem der sonnenwarmen Felder in Deckung. Von Beschuss ist noch nicht die Rede, aber eine einsame Granate kommt aus dem blauen Himmel angezischt, explodiert und wirft den Bataillonsadjutanten aus dem Sattel. Dies ist nur der Anfang. Es wird still im Glied. «Wir sollten durch etwas hindurch, das keiner von uns kannte. Keiner konnte sicher sein, die Prüfung zu überleben, die auf uns wartete.»
    Schließlich machen sie halt auf einem Feld, wo sie die Dämmerung abwarten sollen. Inzwischen werden die Küchenwagen herbeigeholt, und die Männer bekommen heißen Tee. Kurz darauf rollen die von Pferden gezogenen Wagen wieder zurück, in den Schutz des Lagers. Als er sie verschwinden sieht, stellt sich Pollard zunächst die Frage, wie viele seiner Kameraden die Köche wohl gern begleiten würden. Dann dreht er die Frage um und überlegt sich, dass einige von denen, die jetzt abziehen, jene, die bleiben dürfen, vielleicht noch mehr beneiden.
    Als die Sonne untergegangen ist, geht der Marsch weiter. Sie bilden nur noch ein

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