Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
weiter.
Der sensible Lobanov-Rostovskij ist nicht nur müde, sondern auch deprimiert. Vor ein paar Tagen hat er es gegenüber seinem direkten Vorgesetzten, Gabrialovitj, offen zugegeben: «Ich bin mit den Nerven am Ende.» Gabrialovitj reagierte gleichgültig, er meinte, sein Leutnant sei nur müde, und fing dann an, über etwas anderes zu sprechen. Lobanov-Rostovskij macht sich Sorgen um seine Bücher, die normalerweise im Schlafsack verstaut sind, darunter verschiedene französische Romane und einige dicke historische Werke. Anton, sein treuer Bursche, sieht keinen Sinn darin, die Bücher durch die Gegend zu schleppen, umso weniger, da meistens er es ist, der sie schleppen muss. Lobanov-Rostovskij muss Anton unter Kontrolle halten, damit er keine Bücher verschwinden lässt. Er hat es besonders auf das große dreibändige Werk des französischen Historikers Albert Vandal über «Napoleon und Zar Alexander» abgesehen, das er oft so ungeschickt einpackt, dass die Bände während des Marsches herauszufallen drohen.
Nein, nur ein paar Stunden. Dann geht es weiter zurück.
Lobanov-Rostovskij wacht als Erster auf. Er begreift sofort, dass etwas nicht stimmt. Draußen ist es ganz hell. Er blickt auf seine Uhr. Es ist sechs. Sie haben verschlafen. Fünf Stunden verschlafen.
Er weckt Gabrialovitj auf, nicht ohne Mühe. Der gibt ihm den Befehl, die Mannschaft wachzurütteln, die bei den Wagen auf dem Hof schläft, und sie in aller Stille in die Scheune zu führen. Dann soll er vorsichtig nachsehen, ob die Deutschen das Dorf schon eingenommen haben.
Das haben sie nicht.
Sie brechen sofort auf.
Ihre Sorge ist jetzt, dass sie, während sie von der deutschen Kavallerie bedroht werden, die irgendwo hinter ihnen sein muss, gleichzeitig von den russischen Verbänden beschossen werden könnten, die vor ihnen auf dem Rückzug sind. Ein Niemandsland in jeder Hinsicht. Außerdem: Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass alle Brücken gesprengt oder verbrannt werden, und wie sollen sie da über den Fluss kommen?
In der Absicht, die Gefahr zu bannen, kehren sie ihre normale Marschordnung um und lassen die Karren mit Sprengstoff und Ausrüstung – und Büchern – die Spitze übernehmen, während die Soldaten hinterhermarschieren. Und tatsächlich gelangen sie an den Fluss, ohne von den eigenen Leuten angegriffen zu werden. Deutsche sehen sie nicht. Als sie den grün schimmernden Fluss erreichen, sehen sie zu ihrer Freude, dass eine der Brücken noch steht: «Soldaten eines uns unbekannten Regiments trafen gerade Vorbereitungen, sie zu zerstören, und sahen uns verwundert an.»
Gegen elf Uhr erreichen sie die Eisenbahnlinie, die nach Białystok führt. Auch diese wird gerade zerstört. Ein großer Panzerzug fährt etappenweise zurück, während Soldaten hinter ihm die Gleise aufreißen. Lobanov-Rostovskijs Einheit folgt dem Zug. Sie sprengen eine Brücke, später kommen sie an eine Eisenbahnstation. Sie setzen sie in Brand, routinemäßig.
Die Flammen schlagen an den hölzernen Wänden des Gebäudes empor, als Lobanov-Rostovskij eine Katze entdeckt. Das Tier läuft oben auf dem Dach hin und her, zu Tode erschrocken, und gibt hilflose Laute von sich. Er findet eine Leiter und klettert hinauf, um die Katze zu retten:
In seiner Angst kratzte das Tier derart mit den Krallen, dass ich es nicht unter den Arm nehmen wollte, also warf ich es in Höhe des ersten Stockwerks hinunter. Es überschlug sich zweimal in der Luft, landete auf seinen vier Pfoten und verschwand mit aufgestelltem Schwanz in den Büschen.
52.
Sonntag, 15. August 1915 50
Herbert Sulzbach lauscht einem schön singenden Feind bei Evricourt
Es ist ein ruhiger Sommer gewesen. Besonders im Vergleich zum Jahresbeginn. Die Batterie steht bei Evricourt, unweit Nyon. Es finden so gut wie keine Kampfhandlungen statt. Viele Häuser sind noch völlig unbeschädigt, und die Zivilbevölkerung lebt weiter in ihren Dörfern, teilweise nur wenige hundert Meter von den Schützengräben entfernt. Mit einem Fernglas kann man französische Soldaten sehen, die sich mehr oder weniger offen in ihren Stellungen bewegen. Die Batterie ist auf einer abfallenden Wiese postiert.
Sulzbach hat einen knappen Monat mit einer entzündeten Wunde am Bein im Lazarett verbracht. Und zum zweiten Mal in diesem Jahr war er auf Heimaturlaub in Frankfurt am Main, ist tanzen gegangen und hat Restaurants besucht. Außerdem ist er befördert worden, zum Gefreiten. Und er hat sich einen kleinen
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