Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
einziges Glied und verschwinden im Halbdunkel, folgen stolpernd einer Eisenbahnlinie. Die Schützengräben, die beim Ausgangslager auf sie warten, sind neu ausgehoben, eng und flach. Dort müssen sie verharren, «zusammengedrängt wie Sardinen», mit der Ausrüstung am Körper. Sie rauchen, reden. Grobe, einfache Leitern liegen verstreut herum; sie haben drei Sprossen. Obwohl vor der Dämmerung nichts passieren wird und obwohl Schlaf der einzig zuverlässige Segen ist, der den Soldaten in diesem Krieg bleibt, kann Pollard nicht einschlafen:
Nicht nur, dass ich in einer viel zu unbequemen Stellung verharrte, ich war auch viel zu aufgeregt. In einigen Stunden sollte ich zum ersten Mal einen Angriff mitmachen. Ich verspürte nicht die geringste Angst oder auch nur Nervosität, nur Ungeduld. Die Stunden schienen unendlich. Sollte die Dämmerung niemals kommen?
Eine Stunde vor dem Angriff wird Pollard zur vordersten Linie geschickt, um bei der ersten Welle als eine Art Meldegänger zu fungieren. Er ist zufrieden. Dass das Risiko, verwundet oder getötet zu werden, dadurch steigt, kümmert ihn nicht. Es hat nichts mit Unwissenheit zu tun. (Im März – als das, was später die Schlacht bei Neuve Chapelle genannt wird, mit blutigen Verlusten für die Briten zu Ende ging – hat er aus der Nähe und mit fast ohnmächtiger Verzweiflung beobachtet, wie eine angreifende Einheit vom Kreuzfeuer der deutschen Maxim-Maschinengewehre fast bis zum letzten Mann niedergemäht wurde.) Vielmehr sind es Pollards naiv-kindliche Züge, die hier zutage treten, er glaubt, der Tod könne nur andere treffen, nicht aber ihn selbst. Außerdem hat man ihnen jetzt massive Feuerunterstützung versprochen (damals im März war der Einsatz der britischen Artillerie eher symbolisch). Und der Auftrag gibt ihm die Chance zu tun, wonach er sich so lange gesehnt hat: seine Waffe zu benutzen. «Mit ein bisschen Glück kann ich mit dem Bajonett einen Hunnen aufspießen!»
Das Sturmfeuer beginnt – «Bang! Bang! Bang! Bang! Bang! Swisch, Swisch, Swisch, Swisch! Crump! Crump! Crump! Crump! Crump!» 47 – und ist bald so intensiv, dass Rufe nicht mehr ausreichen, um sich Gehör zu verschaffen; man muss sich direkt ins Ohr schreien. Dass auch sie unter deutschem Beschuss stehen, merkt Pollard daran, dass er mit Erde bespritzt wird. Die Soldaten ringsum hantieren an ihrer Ausrüstung. Der Hauptmann dreht sich im Getöse um, lächelt, formt mit seinen Lippen die Worte: «Nur noch eine Minute.» Alle stehen auf. Die kurzen Sturmleitern werden aufgestellt, die Soldaten nehmen dort ihre Positionen ein, den Fuß auf der untersten Sprosse und das Bajonettgewehr auf dem Rücken. Der Hauptmann senkt die Hand als Signal, klettert hoch. Pollard folgt ihm sofort.
Der Angriff ist erfolgreich. Die Verluste sind entsetzlich.
47.
Freitag, 18. Juni 1915
Rafael de Nogales wird Zeuge des Massakers in Sairt
Sie kommen etwas zu spät, und dafür ist er bestimmt dankbar. Aus der Entfernung ist es ein ländliches Idyll, das sich vor ihnen ausbreitet. Herden von Kühen und Büffeln weiden ruhig auf den grünen Feldern, und an einer Quelle ruhen ein paar Dromedare unter dem türkisfarbenen Himmel. Die Stadt Sairt bietet einen friedlichen Anblick: ein Labyrinth aus länglichen weißen Häusern, aus denen sechs schmale Minarette aufsteigen, «wie Nadeln aus Alabaster».
Sie reiten näher heran.
Da fällt Rafael de Nogales’ Blick auf den Hügel.
Am Vormittag haben ihm einige türkische Offiziere ohne Umschweife, ja mit Genugtuung davon berichtet, dass die Vorbereitungen in Bitlis jetzt abgeschlossen seien und man nur auf Befehl von oben warte, dass das Töten in Sairt jeden Moment beginnen könne. Wenn er zusehen wolle, müssten sie sich beeilen.
Aber sie kommen zu spät.
Der Hügel liegt ganz dicht an der Hauptstraße. Er ist mit etwas bedeckt. Bald sieht er, was es ist. Der Hang
war bekrönt mit Tausenden von halbnackten und noch blutenden Körpern, die dort in Haufen lagen, in einer letzten Umarmung im Tod verflochten. Väter, Brüder, Söhne und Enkel lagen so, wie sie durch die Kugeln oder die Yataganen der Mörder gefallen waren. Aus mehr als einer durchschnittenen Kehle entwich das Leben im Herzschlag des warmen Blutes. Scharen von Geiern saßen auf den Haufen, hackten den Toten und Sterbenden die Augen aus, deren starre Blicke noch das Entsetzen und den unsagbaren Schmerz zu spiegeln schienen, während die aasfressenden Hunde ihre scharfen Zähne
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