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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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in Eingeweide schlugen, die noch von Leben pulsierten.
     
    Das Totenfeld erstreckt sich bis hinunter zur Straße, und um voranzukommen, müssen sie die Pferde über «Berge von Leichen» springen lassen. Schockiert und wie betäubt reitet de Nogales in die Stadt. Dort sind die Polizei und der muslimische Teil der Bevölkerung vollauf damit beschäftigt, gemeinsam die christlichen Häuser zu plündern. Er trifft einige der Amtspersonen der Gegend, unter anderem den Chef der örtlichen Gendarmen, der das Töten selbst angeordnet hat. De Nogales findet seinen Eindruck bestätigt, dass so ein Massaker an christlichen Männern keinesfalls wie früher ein spontanes Pogrom ist, sondern eine gut geplante, zentral gesteuerte Operation.
    Man weist ihm ein Nachtquartier in einem der geplünderten Häuser zu. De Nogales begreift jetzt, dass der Angriff sich nicht mehr nur gegen die Armenier richtet, sondern auch gegen andere christliche Gruppen. Das Haus hat nämlich einer Familie syrischer Christen gehört. Abgesehen von ein paar zerschlagenen Stühlen ist es komplett leergeräumt. Von seinen früheren Besitzern findet sich keine Spur mehr, bis auf ein englisches Lexikon und ein in einer Ecke verstecktes kleines Bild der Jungfrau Maria. Auf dem Fußboden und an den Wänden sind Blutspritzer zu erkennen.
    Später, als de Nogales mit einer Gruppe von Offizieren vor der Messe der Garnison sitzt, spielen sich weitere Schreckensszenen ab. Er ist entsetzt, tut aber nichts, um sie zu verhindern. Sein angestrengtes Lächeln zeigt sein Einverständnis. Ein Mob zieht vorbei, sie schleppen die leblosen Körper von Kindern und alten Männern mit sich. Die Schädel der Toten schlagen gegen die gerundeten Pflastersteine. Umherstehende spucken nach den Leichen oder schicken ihnen Flüche hinterher. De Nogales sieht auch eine Gruppe Gendarmen mit einem alten Mann von ehrfurchtgebietender Erscheinung:
     
Sein schwarzer Mantel und seine purpurfarbene Kopfbedeckung zeigten deutlich, dass er ein nestorianischer  48 Bischof war. Blutstropfen rannen über seine Stirn und an seinen Wangen hinab wie die scharlachroten Tränen des Martyriums. Als er an uns vorbeikam, richtete er seinen Blick auf mich, als ahnte er, dass auch ich Christ war, und ging weiter, hinauf zu jenem entsetzlichen Hügel.
     
    Bei Sonnenuntergang reitet Rafael de Nogales hinaus aus der Stadt Sairt, begleitet von seinem albanischen Burschen, dem großen und gut gebauten Tasim, sowie sieben berittenen Gendarmen. De Nogales fürchtet um sein Leben. Es kursieren Gerüchte, dass man ihn höheren Orts liquidiert sehen möchte; es sind Zweifel an seiner Loyalität aufgekommen. Der Ritt geht durch wegloses Land, nach Süden. Sein Ziel ist Aleppo. Dort wird er seine Entlassung aus der osmanischen Armee beantragen.

48.
    Mittwoch, 14. Juli 1915
    Michel Corday begeht in Paris den französischen Nationalfeiertag
     
    Es ist ein trüber Sommertag, aber von Zeit zu Zeit bricht die Sonne durch die Wolkendecke. Michel Corday notiert in seinem Tagebuch:
     
Schweigende Volksmassen. Verwundete Männer, manche mit amputierten Gliedmaßen, Soldaten auf Urlaub in Mänteln, die von der Sonne gebleicht sind. Ebenso viele Geldsammler wie Zuschauer, sie bitten um Spenden für verschiedene wohltätige Zwecke. Das Regiment marschiert mit seinen Musikkorps vorbei; und alle diese Männer sind unterwegs zur Schlachtbank.
     
    Am Place de l’Étoile sieht er Außenminister Delcassé in einem offenen Automobil ankommen. Delcassé ist derjenige, der sich am meisten dafür eingesetzt hat, Italien mit in den Krieg zu ziehen, und er erwartet offenbar einen Jubelsturm.  49 Doch die Menge bleibt stumm. Corday deutet das Schweigen als einen unbewussten Protest gegen den Krieg, hat aber zugleich den Verdacht, dass der Jubel gewaltig gewesen wäre, hätte es einen Sieg gegeben, mit dem man hätte prahlen können. (Einer der Aufwärter im Ministerium hat vor einiger Zeit entdeckt, dass sich an den kleinen Flaggen, die auf der Kriegskarte des Büros die Frontlinien markieren, Spinnweben gebildet haben.) Die Marseillaise erklingt, und wehe dem, der den Hut nicht zieht. Am Himmel brummen Flugzeuge.
    Präsident Poincaré spricht. Noch einmal hält er eine aggressive, gefühlsgeladene und mit Floskeln gespickte Rede über den Kampf «bis zum bitteren Ende» (Poincarés plumpe Rhetorik ist berüchtigt: Im Mai wurde ein Artikel von ihm publiziert, von dem viele glaubten, er sei in seiner ganzen Banalität eine Parodie,

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