Schossgebete
geboren wurde. Dass ich stolz auf sie bin, wie sie ist, was sie kann, und sage ihr regelmäßig, dass ich sie liebe. Sage ihr, dass sie schlau und schön ist. Und sehr lustig. Alles lernen kann, wenn sie nur will. Ich versuche ihr durch Taten zu signalisieren, dass ich es auch okay finde, wenn sie nicht so wird wie ich, dass ich sie dann trotzdem liebe, egal, was für einen Wahnsinn sie in ihrem Leben noch abfackeln wird. Das hat meine Mutter bei mir nicht gemacht, sie hat mir immer signalisiert: Entweder du bist so wie ich, oder ich liebe dich nicht. Das wird nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das verhindere ich. Ha!
Liza holt drei Teller aus dem Regal, hockt sich hin, legt die Teller auf der Arbeitsfläche ab und springt runter, flink wie ein Affe. Sie muss die auseinandergepflückten Zeitungen, die Zeit und den Freitag , die einzigen Zeitungen, die wir lesen, zur Seite räumen, damit sie unsere Seite des Esstischs decken kann. Es hätten sieben Personen Platz. Wir benutzen aber nur ein Ende des Tischs, damit wir ganz nah beieinandersitzen. Ich zwinge sie, den Tisch zu decken, weil ich es in einem Erziehungsbuch von Jesper Juul gelesen habe. Mein erster Impuls wäre immer, alles für sie zu machen, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Dann würde sie aber wohl nie was lernen und könnte mit sechzehn keine Wäsche waschen oder Spülmaschine einräumen. Ich muss meinem ersten Impuls widerstehen und sie quälen, Sachen zu machen, die sie eigentlich in unserem Haushalt gar nicht machen müsste. In dem Erziehungsbuch steht, dass man einem Kind alles beigebracht haben muss, bis es zwölf ist, damit es zur Not allein wohnen könnte, danach ist es zu spät fürs Beibringen. Das mache ich jetzt schnell die verbleibenden fünf Jahre. Tisch decken, Kleidung falten, Zimmer aufräumen und Toilette putzen.
Georg kommt von unten hoch. Er sieht verschlafen aus, ich grinse ihn an, das soll heißen: Ich kann grad nicht sprechen, weil das Kind im Raum ist, aber das war geil mit dir. Er grinst zurück. Er trägt seine locker sitzende, lange, weiße Unterhose mit Eingriff. Ich mache ihm oft dafür Komplimente, weil er dann aussieht wie ein Cowboy, der freihat, und das gefällt mir. Wenn ich ihm über den Po streichele, was ich auch oft mache, wenn das Kind nicht guckt, fühlt sich der Stoff unglaublich weich an, er ist schon hundertmal gewaschen worden und an vielen Stellen fast durchsichtig.
Ich habe in Geo Kompakt (das ist ja wohl meine neue Sexbibel!) eine Theorie gelesen, die absolut auf meine Liebe zu meinem Mann zutrifft. Sie heißt »Hängebrückentheorie«. Eine Frau, in dem Test der Lockvogel, ziemlich attraktiv, stoppt ganz viele Männer in ganz normalen Situationen, in der Fußgängerzone, auf dem Bürgersteig, und stellt ihnen ein paar Fragen. Angeblich für eine wissenschaftliche Studie. Die Männer antworten brav, und sie gibt ihnen ihre Nummer, falls sie an dem Ergebnis der Umfrage interessiert sind. Das Gleiche macht sie auf einer Hängebrücke in einem Park, wo auch ständig Erwachsene drübergehen. Die Brücke bewegt sich im Wind hin und her, und auch dort stellt die Frau die gleichen Fragen und verteilt ihre Nummer an alle Männer. Das Ergebnis des Experiments: Deutlich mehr Männer von der Hängebrücke als vom Bürgersteig rufen sie nachher an. Das bedeutet, dass man schneller eine Verbindung aufbaut, wenn man in einer extremen Situation ist. Das Gefühl auf der Hängebrücke sagt den Männern, oh, wir haben das beide zusammen durchgestanden, ich finde sie sehr attraktiv. Weil man in einer extremen Situation Bindung zu dem Mitleidenden sucht. Die Hängebrücke beim Kennenlernen zwischen mir und meinem neuen Mann war: die Schwangerschaft beziehungsweise die Geburt.
Wir haben uns ganz langweilig, wie fast jedes Paar, bei der Arbeit kennengelernt. Er war Galerist und wollte meine Fotos ausstellen. Seine Frau stand kurz vor der Geburt, ich war ganz kurz nach der Geburt. Wir hatten also beide gerade mit einem anderen Partner eine Familie gegründet. So weit die Hängebrücke. Und dann ging’s ab. Wie zwei Kometen sind wir aufeinander zugeflogen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Aber ohne dass wir das bemerkt haben. Es lief praktisch in einem Programm im Hinterkopf ab, wie ein Trojaner auf einem Computer, jenseits unserer bewussten Wahrnehmung. Wir dachten einfach: Schön, wie wir uns verstehen, wir müssen unbedingt Freunde werden. Wir fühlten uns wie Seelenverwandte, rein platonisch,
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