Schossgebete
Kreuz Essig und Galle zu trinken geben, obwohl er verdurstet. Zusätzliche Folter.
Sie klettert schon wieder mit Schuhen auf die Arbeitsfläche, um Gläser aus dem Regal zu holen, sie springt wieder runter und macht die Gläser viel zu voll, dann balanciert sie sie zum Tisch. Ich muss mich stark kontrollieren, um nichts zu sagen, schlimm, Muttersein, immer was sagen müssen, zu allem, was das Kind macht. Man sieht es immer kommen, und dann kommt es auch. Schrecklich. Schrecklich. Schrecklich.
»Bitte tust du noch ein Hitzeding auf den Tisch, mein Kind?«
Da mein Mann jetzt wieder wach ist, gebe ich meine Tochter in seine Obhut. Ich melde mich ab, die kennen das schon. Freie Beschäftigung für jeden, bis ich wieder da bin. Ich bin schnell da und wieder zurück, ist nicht weit. Ich mache die Pfanne auf dem Weg nach draußen aus, damit die beiden nicht verbrennen, da drin, ohne mich, wenn ich nicht auf sie aufpassen kann. Gasherd, ist gefährlich. Ich lasse mir von Feuer nicht noch mehr Verwandte nehmen.
»Bis gleich, ihr Spackos.«
Keiner antwortet, so ist das in einer eingespielten Familie.
Ich fahre zu meiner Therapeutin in ein anderes Viertel. Dreimal die Woche muss ich dahin, für jeweils eine Stunde beziehungsweise eine Stunde in Therapiesprache, das sind fünfzig Minuten in Menschensprache. Um meinen Alltag hinzukriegen, gehe ich in Therapie, ich glaube, ich wäre schon mehrmals gestorben ohne meine Therapeutin. Sie hat mir psychisch ganz oft das Leben gerettet. Meine Tochter Liza weiß ganz genau: Die Mama geht zu ihrer ominösen Ärztin, hat sie noch nie interessiert, was ich da eigentlich mache, ich freu mich, wenn sie so spät wie möglich fragt, ich kann es umso besser erklären, je älter sie ist. »Mama geht dahin, um dir weniger auf den Sack zu gehen, mein Kind, um dich weniger zu belasten mit ihrem Kram. Damit du freier sein kannst.«
Die Autofahrt ist meist beschwerlich. Die Therapeutin, Frau Drescher, sagt, das ist schon Teil der Therapie, ich wehre mich nämlich gegen die Unannehmlichkeiten, die eine Therapie so mit sich bringt, schon auf dem Weg dahin. Weil ich weiß, dass der Unfall bei ihr immer eine große Rolle spielt, denke ich innerlich, ich muss doch gar nicht dahin, mir geht es doch gut. Was soll das überhaupt? Ich denke mir lauter Gründe aus, warum ich nicht fahren sollte, finde sogar auf dem Weg dorthin meine Therapeutin schlecht, finde, dass sie sich maßlos überschätzt mit ihrer Couch und ihrer Psychoanalyse. Was soll das überhaupt sein, eine Analyse? Ich mache das zwar, habe aber keine Ahnung, was das soll. Krieg ich dann irgendwann ein Zeugnis ausgestellt? Wie beim Bluttest das Blutbild? Ein Psychobild? Das wäre gut, dann könnte ich das als Bedienungsanleitung meinem Mann und, wenn sie alt genug ist, auch meiner Tochter zum Lesen geben. Das würde unser aller Leben einfacher machen. Ich frag die das mal. Frau Drescher meint, diese Abwertung ihrer Person auf dem Weg dorthin gehört auch zu einer Therapie dazu. Schön, das beruhigt mich. Dann fühl ich mich direkt viel besser. Ich versuche beim Fahren alles richtig zu machen, ich muss um jeden Preis einen Unfall verhindern. Nicht unbedingt, weil ich nicht sterben will, das nicht, ich denke sogar manchmal wie so eine alte Frau, es wäre ganz gut, endlich mal seine Ruhe zu haben, die absolute Ruhe, aber weil ich ein Kind habe, bin ich von gesteigertem Wert, ich darf das vor allem meinem Kind nicht antun, dass ich sterbe oder verletzt bin, deswegen bin ich eine sehr vorausschauende Fahrerin. Ich lasse immer alle Leute rein, vor allem Frauen, um dem Vorwurf der Stutenbissigkeit zu entgehen, auch im Straßenverkehr. Ich fahre sehr defensiv, lasse große Abstände zum Vorausfahrenden, vermeide jede Art von Fehler, beherzige alles, was ich damals mit achtzehn in der Fahrschule gelernt habe, zu hundert Prozent, um zu überleben und auch andere nicht zu töten. Es geht bei mir wegen meiner Vergangenheit immer um Leben und Tod, selbst auf dem kurzen Weg zu meiner Therapie.
Auf dem Parkplatz steige ich aus dem Auto. Ich nehme alle Wertsachen mit, denn meine Therapeutin hat ihre Praxis interessanterweise in einer schlechten Gegend. Und außerdem in der elften Etage. Was für mich eine absolute Katastrophe ist. Ich habe ihr schon oft gesagt, dass ich das nicht mehr möchte. Sie soll sich doch bitte neue Praxisräume irgendwo im Erdgeschoss mieten. Dann ginge ich da lieber hin. Viel lieber. Sie lacht über mich und sagt: »Da müssen
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