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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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allen drei Knubbeln die seltensten, sie stehen für meinen kleinsten toten Bruder. Wenn ich solch einen Knubbel mal sehe, rede ich mir ein, dass ich an dem Tag besonders viel Glück haben werde, und verachte mich gleichzeitig dafür, weil ich doch gerne ein aufgeklärter Mensch sein möchte, der nicht an solch einen Schmu glaubt.
    Das andere magische Denken, das mich verfolgt, betrifft die silberne Eichelnuss. Die Eichelnuss ... something old … hat meiner Meinung nach den Unfall verursacht, ich hebe sie nach wie vor auf. Sie liegt in unserem Keller versteckt, in dem Koffer, in dem alle Sachen sind von unserer ausgefallenen Hochzeit. Ich hoffe die ganze Zeit, dass das kein Fehler war, sie aufzubewahren. Ich habe massive Angst vor diesem bösen Gegenstand. Ich dachte immer, ich will sie loswerden, aber ich fürchtete auch, sie würde sich rächen, wenn ich sie wegschmeiße. Wie bei meiner Freundin. Ich habe Angst vor ihrer Aggression. Also bleibt die Eichelnuss da unten bei uns im Keller. Höchstwahrscheinlich ist sie verantwortlich für alle komischen Sachen, die in unserer Wohnung passieren.
    Wir haben zum Beispiel ein massives Stromproblem. Irgendwas stimmt nicht mit der Spannung in der Wohnung. Entweder die Eichelnuss funkt da mit rein, oder es sind direkt meine toten Brüder. Sie sorgen ständig für Stromausfall, dass Lampen und Birnen durchknallen. Wir haben in unserer Wohnung einen extrem hohen Verbrauch an Birnen und Lampen. Ja, sogar ganze Lampen gehen bei uns kaputt. Schon mehrere Elektriker haben nicht rausfinden können, was da los ist. Ich fühle mich verfolgt von meinen toten Brüdern. Wenn Menschenfleisch verbrennt, riecht es nach gegrilltem Bauchspeck, hab ich mal gelesen.
    Ich hasse es, alleine zu sein mit diesen Gedanken, immer so ekelhafte Gedanken, entweder Tote oder anal, was anderes gibt’s wohl nicht in meinem Kopf?
    Ich glaube fest daran, dass sie bei lebendigem Leib verbrannt sind. Ich mache es mir nicht leicht und versuche mich mit Glauben zu beruhigen und zu trösten. Nein, ich gehe einfach von dem Schlimmsten aus, damit ich nicht so dumm bin wie die Gläubigen. Nicht trösten, sondern knallhart sein, den Tatsachen ins Auge sehen, nicht flüchten. Der liebe Gott wird schon seinen Grund haben, warum er diese reinen Seelen zu sich geholt hat. Fickt euch! Niemand holt hier niemanden. Dinge passieren, und wir müssen damit leben, klarkommen, drüber verrückt werden, egal, aber doch nicht gläubig werden, verdammt.
    Das ist viel zu einfach. So lieb sein zu sich. Alles hat schon seine Gründe. Wir verstehen sie nur nicht. Ja, klar. You wish! Wir sehen uns auch alle wieder. Klar. You wish. Ist aber nicht so. Wir sehen uns nie wieder. An welcher Stelle in der Evolution zwischen Affen und Neandertalern wurde uns denn plötzlich die Seele eingehaucht? An keiner. Wir sind Tiere und sehen uns nach dem Tod nicht wieder, so wie die ganzen von uns überzüchteten Masthühnchen sich auch nicht wiedersehen nach dem Tod, im Hühnchenhimmel.
    Ich habe einen unbändigen Wunsch, jemanden zu retten, weil ich meine Brüder nicht retten konnte. Ja, genau, ich würde so gerne mal jemandem das Leben retten. Dann würde ich mich vielleicht besser fühlen. Ich habe mir im Portemonnaie notiert, wo in unserer Gegend Defibrillatoren hängen, ich weiß ganz genau, wie die funktionieren. Ich müsste die Bedienungsanleitung gar nicht erst lesen. Es wäre mir auch egal, wen ich rette, selbst wenn es ein alter Nazi wäre. Am liebsten aber ein Kind. Von mir aus auch ein böses. Ich habe gelernt, wie man einen Luftröhrenschnitt macht oder eine Mund-zu-Mund-Beatmung bei Kindern.
    Alles nur, weil sie sich nicht umgedreht hat.
    Georgs Handy klingelt. »Hallo, Michael«, höre ich ihn sagen. Ein Kollege. Michael! Das Einzige, was ich mir mal als Abwechslung wünschen würde, wäre ein anderer Mann. Hab ich das schon gesagt? Ich halte es jedenfalls nicht mehr lange aus nur mit einem. Ich habe schon mehrmals versucht anzusprechen, dass er mir erlauben muss, mit anderen zu schlafen, sonst platze ich. Das, was mein Mann nicht weiß, ist, dass ich mich ständig in andere Männer verliebe. Seit ungefähr einem Jahr, ohne dass jemand was merkt. Wir lernen neue Leute kennen, meistens Pärchen, und ich fahre so auf die Männer ab. Das hält nur ein paar Tage, und wenn man den fast unerträglichen Phantasien nicht nachgeht, stirbt es auch ab, nach ein paar Tagen oder Wochen oder Monaten. Und ich glaube, so wie ich mich kenne, ist das,

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