Schossgebete
Sie wohl durch, Frau Kiehl. Ich werde mit der Praxis hierbleiben.«
Und dann will sie noch mal mit mir in aller Ruhe über meine Höhenangst und Aufzugangst, Feuer- und Qualmangst sprechen. Auch habe ich Angst, dass das viel zu hohe Haus einstürzen könnte, wenn ich gerade drin bin. Während ich in das Hochhaus komme, rede ich schon mit mir selber: »Ich kann es nicht fassen, dass ich jetzt wegen Frau Drescher in diesen Aufzug steigen muss. Ich kann es nicht fassen.« Meistens rieche ich schon unten im Treppenhaus Qualm oder Gas. Das ist ein lustiges altes Ding von mir: weil meine Mutter ihre Mutter mal halb tot auf dem Küchenboden liegend gefunden hat, vor offenem Ofen mit dem ausströmenden Gas. Sie hatte Schlaftabletten geschluckt und auch ihren jüngsten Sohn betäubt, den wollte sie nämlich mitnehmen. Meine Mutter, die damals auch ein Kind war, aber nicht. Warum auch immer! Und das ist unser großes Familiendrama, das heißt, bis der Unfall alles andere überlagert hat. Deswegen schnuppere ich überall in der Gegend rum, wie ein Tier. Ich suche die Gefahr mit der Nase. Bei anderen ist das Alarmorgan Nummer eins das Ohr, bei mir die Nase. Weil ich einfach weiß, dass meine Familie und ich durch Feuer, Qualm oder Gas ausgelöscht werden. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum ich Raucher hasse wie die Pest. Sie lösen einen Fluchtimpuls in mir aus. Jedes Mal, wenn ich eine brennende Zigarette rieche, denke ich, dass es brennt, und bekomme Todesangst, ganz kurz nur, aber es genügt, um mein Herz hüpfen zu lassen und zu viel Adrenalin auszuschütten. Sehr unangenehm.
Wenn ich auf dem Weg zu meiner Therapeutin bin, im Aufzug, kann es schon mal sein, dass es dort nach Rauch riecht, weil irgendeine süchtige Sau geraucht hat, weil Raucher meistens ja nicht warten können. Dann stehe ich da und denke erst mal, es brennt. Bis ich rausgefunden habe, dass es sich nur um Zigarettenrauch handelt, bin ich vor lauter Angst um fünf Jahre gealtert. Deswegen hasse ich alle Raucher, weil sie den Geruch von Tod verbreiten. Der steckt in ihren Haaren, in ihren Kleidern und überall, wo sie sind.
Wenn ich unten am Aufzug stehe und an den digitalen Zahlen erkenne, aus welcher Etage der Aufzug angefahren kommt, kriege ich schon Angst. So hoch ist das Gebäude? Die elfte Etage ist nicht mal die höchste in dem Haus. Der Aufzug kommt oft von noch höher angefahren. Und ich denke: Muss ich mir das wirklich antun? Was da alles passieren kann unterwegs. Der bleibt stecken, es brennt, und ich verglühe in dieser aufgeheizten Konservenbüchse, der Boden wird heiß, dass ich nicht mehr drauf stehen kann, ich setze mich, aber die Haut und das Fleisch an meinem Po verbrennen, schreiend stelle ich mich wieder hin und sehe, wie Qualm langsam in die Kabine dringt. Ich schreie, solange ich noch Luft kriege, der Rauch brennt höllisch im Hals, an den Stimmbändern, ich muss ständig husten, die Stimme wird dünner. Ich drücke die ganze Zeit den Notrufknopf. Nichts passiert. In meiner Verzweiflung und Todesangst springe ich hoch an die Decke der Kabine, um dort nach Luft zu schnappen, aber alles ist voll dunklem Qualm. Ich bin in einer Räucherkammer gefangen. Keiner rettet mich, am Ende kann ich auch nicht mehr schreien. Ich weine und lege mich völlig erschöpft zum Sterben auf den glühend heißen Boden. Ich denke an meine kleine Tochter und will nicht sterben. Dann verliere ich das Bewusstsein.
Das spiele ich jedes Mal genauso durch, wenn ich die elf Etagen hochfahren muss zu meiner Scheißtherapeutin, die meint, ihre Praxis in der elften Etage haben zu müssen. Dabei glotze ich unentwegt auf das Schild im Aufzug, das an all meinen Ängsten schuld ist: Aufzug im Brandfall nicht benutzen! Das sehe ich auch ein. Aber was ist, wenn der Brand ausbricht, wenn ich schon drin bin? Hat darüber schon mal jemand nachgedacht? Natürlich nicht. Wenn ich oben angekommen bin und tatsächlich die Tür einfach ganz normal aufgeht und ich wie eine Überlebende rausmarschiere, könnte man meinen, ich wäre dann froh und locker. Aber schon kommt das nächste Problem. Oben auf ihrer Etage raucht einer in seiner Wohnung. Wir befinden uns in der elften Etage, und er spielt mit unserem Leben! Das Gebäude scheint zu schwanken. Ich sage regelmäßig zu meiner Therapeutin, dass es nicht sicher gebaut ist. Vor allem, wenn es sehr windig ist. Dann spüre ich, wie wir alle mit dem Gebäude schwanken.
Manchmal kommt mir jemand oben im Treppenhaus
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