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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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entgegen. Ich bin schlagartig abgelenkt von meiner Angstvorstellung. Weil ich plötzlich denke: Was, so sieht ein Patient von meiner Therapeutin aus? Dabei ist noch gar nicht gesagt, dass er aus den Praxisräumen kommt. Ich bin völlig entsetzt, dass sie überhaupt andere Patienten hat. Ich habe mal in der Biografie über Brian Wilson gelesen, dass er seinen Therapeuten bei sich wohnen hatte. Gute Idee! Das wäre mein größter Traum, Frau Drescher bei uns zu Hause, nur für mich.
    Ich bin fest davon überzeugt, dass ich ohne die Drescher nicht mehr leben würde. Ich möchte die Einzige sein. Ich kenne nur Monotheismus, von meiner Mutter natürlich. Was anderes hat die mir nicht beigebracht. Mutter ist immer schuld. Ich werde später auch an allem schuld sein für mein Kind. So ist der Lauf der Dinge.
    Ich versuche so viele Informationen wie möglich zu sammeln über meine Therapeutin, in den paar Sekunden, in denen ich sie angucken darf. Meine Therapeutin umgibt sich mit einer mysteriösen Wolke der Nichtinformation. Sie sagt, ich dürfe nur so wenig wie möglich von ihr wissen. Das Einzige, was ich über sie weiß, ist, was ich sehe. Und was sie von sich preisgibt. Und das ist verdammt wenig. Vor allem im Vergleich zu dem, was ich von mir preisgebe. Fuck, ist das unfair. Aber so soll das wohl sein mit der Therapie. Muss ich ja nicht verstehen, ich habe das ja nicht studiert.
    Meine bald frühere beste Freundin ist auch mal kurz und natürlich nicht zu lange und intensiv, weil sie ja sonst an sich arbeiten müsste, zu einer Therapeutin gegangen, bei der alle, aber komplett alle ihre Freundinnen auch waren, außer mir. Was für eine geisteskranke Idee. Meine Therapeutin findet das auch. Da kann man doch gar nicht offen reden, wenn man mal ein Problem mit einer der Freundinnen hat. Die ganze Idee der Therapie ist doch, dass die Therapeutin die Leute nicht kennt, über die man redet, sich kein eigenes Bild von den Leuten machen kann, sie nur aus der Erzählung des Patienten kennt. Wenn ich schon rasend eifersüchtig bin auf alle anderen Patienten meiner Therapeutin, wie muss das dann sein, wenn man mit allen Patienten befreundet ist und sich ständig im Hausflur trifft. Oh, hallo, ich habe grad mit deiner Therapeutin über deine Abtreibung geredet. Ach so, du hattest ihr noch nichts davon erzählt, oh, Entschuldigung! Kein Wunder dann alles!
    Aha, denke ich, im Flur vor der Praxis, interessant, so langweilig aussehende Patienten nimmt die also an? Die macht es ja mit jedem! Hat die denn keine Würde? Oder ich denke: Hoffentlich sind die psychischen Probleme des Patienten interessanter als seine Klamotten. Der Patient kann mir nicht in die Augen gucken, wie uncool. Hey, wir sind doch alle geistesgestört, mach dir nichts draus, da muss man sich doch in die Augen gucken können, bei meiner netten Begrüßung.
    Oder schämt der sich etwa noch mehr als ich, dass er zum Therapeuten muss? Ist ja im Grunde auch ärgerlich! Wenn er weg ist, darf ich klingeln. Es gibt eine Abmachung mit allen Patienten, dass man nie zusammen in der Praxis ist. Nicht wie bei einem Hausarzt, wo alle Kranken im Wartezimmer auf einem Haufen sitzen und sich gegenseitig anstecken. Wenn ich in der Praxis bin, kann ich mir sicher sein, dass mit mir nur Frau Drescher drin ist.
    Sie hat die Räume ganz komisch eingerichtet. Ich hoffe immer, dass das nicht wirklich ihr Geschmack ist. Dass sie sich dort so eingerichtet hat, um im Kopf des Patienten etwas auszulösen. Wenn nicht, wär’s echt schlimm.
    Ich klingele, weil der andere Irre schon weg ist, der automatische Türsummer lässt mich rein. Sie versteckt sich wie meistens in einem Büro, das ich noch nie gesehen habe. Ich kann durch die Milchglasscheibe nur erkennen, dass sie da an einem Schreibtisch sitzt. Ganz unscharf sehe ich den großen Schreibtisch und irgendeine pastellige Farbe am Körper. Sie trägt gerne Pullis in Pastellfarben, gerne auch mit Zopfmuster. Und man sieht ein bisschen einen blonden Haarschopf. Sie sieht sehr fraulich und freundlich aus. Hat so einen Siebzigerjahre-SexAppeal. Manchmal habe ich Angst, dass sie lesbisch ist, ich werde es aber nie rausfinden. Ich fände es überhaupt nicht gut, wenn meine Therapeutin lesbisch wäre. Ich möchte gerne, dass sie all die schwierigen Sachen im Leben genauso hat wie ich: Mann, Kind, die ganze Scheiße!
    Ich muss warten, bis ich dran bin. Sie braucht immer zehn Minuten zwischen den Patienten, um sich und ihre Seele, die es nicht gibt,

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