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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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Tochter die Großeltern nicht, nur weil ich wegen meiner Kindheit auf sie sauer bin. Ja, ja, Frau Drescher. Alles klar, mach ich. Anstrengend, das Leben. Fuck!
    Weihnachten muss ich das vor meiner kleinen Familie gut verbergen, dass ich meine Eltern dann am meisten vermisse. Aber jetzt nicht unbedingt genau diese Eltern. Sondern eher Eltern im Allgemeinen. Die Eltern einer Freundin von mir sagen ihr jedes Mal, wenn sie Weihnachten nach Hause kommt: »Boah, bist du dick geworden.« Ich habe ihr geraten, einfach nicht mehr dahin zu gehen, aber sie holt sich weiter jährlich ihre Dosis Selbsterniedrigung ab. Da komm ich nicht drüber. Kann bei ihr auch was mit dem Erbe zu tun haben. Ich glaube, wenn mein Mann nicht mit seinem Aufkreuzen in meinem Leben mein Erbe überflüssig gemacht hätte, würde ich da auch noch regelmäßig hintuckern. Ich glaube ganz fest daran, dass die Erbschaft viele kranke Familien zusammenhält, dass sie die Kinder zur Selbsterniedrigung zwingt.
    Mit meinem früheren Mann war ich hoch verschuldet. Mein neuer Mann hat als Erstes all meine Schulden bezahlt, und dadurch werde ich nie das Gefühl los, dass er mich wie ein altes Kamel meinem Exmann abgekauft hat. Ich glaube, ich habe mich auch tatsächlich kaufen lassen, weil ich dringend Sicherheit brauchte, weil ich von meinem Trauma so durcheinander war, dass ich psychisch nicht auch noch ein schuldenbeladenes Leben verkraftet hätte. Georg ersetzt nicht nur das finanzielle Erbe des Vaters, sondern damit auch psychisch beide Elternteile. Frau Drescher hält das natürlich für eine Überforderung meines neuen Mannes, hat sie wahrscheinlich wieder mal recht. Dann bearbeite ich das eben auch noch mit ihr.
    Ich bringe die Tochter ins Bett. Seit sieben Jahren immer das Gleiche, wie im Gefängnis: erst ins Bad, Zähneputzen, Toilette. Bei Zähneputzen bin ich so hart, als ginge es um Leben und Tod. Ich rede mir ein, dass es nur Asis passiert, dass die Kinder Löcher in den Zähnen bekommen. Vor allem in den Milchzähnen, das geht gar nicht. Erstens müssen immer ganz drastisch die Süßigkeiten reduziert werden. Und es muss jeden Tag mindestens einmal geputzt werden. Ganz lang. Ich habe mich eines miesen Tricks bedient, um diese Mundhygiene gegen den natürlichen Widerstand des Kindes durchzudrücken. Ich habe den gleichen Trick benutzt, den sonst Leute verwenden, um moralisches Verhalten durchzusetzen, indem sie einfach einen Gott erfinden und behaupten, dass er alles sieht und man deswegen mal besser lieb ist.
    Ich habe meiner Tochter, als sie kleiner war, ständig von Karius und Baktus erzählt. Das sind zwei Bakterienmännchen, die von der deutschen Regierung oder was erfunden wurden, um bei den Kindern die Zahnhygiene durchzusetzen. Die kommen auch in Kinderbüchern vor, es geht um reine Panikmache. Es wird erklärt, wie sie sich von den Essensresten im Mund ernähren und dann mit ihren Ausscheidungen Löcher in die Zähne fräsen und ätzen. Das habe ich Liza immer und immer wieder erzählt: »Wenn du nicht putzt, kommen Karius und Baktus mit Hammer und Sichel und klopfen dir Löcher in die Zähne, und die Löcher tun dann weh, und dann musst du zum Zahnarzt, und dann muss der bohren, um das Loch zu reinigen, bevor er es zumachen kann, mit Füllmasse.«
    Der Vergleich mit Gott ist insofern schlecht, weil es Karius und Baktus ja tatsächlich gibt, gewissermaßen, und es auch tatsächlich Konsequenzen hat, wenn man nicht putzt. Bei Gott gibt es nie welche. Gott sieht nicht alles und bestraft auch nichts, weil es ihn einfach nicht gibt. Das Kind hat das mit dem Zähneputzen so verinnerlicht, dass es, wenn es mal spät geworden ist und ich es schlafend ins Bett legen möchte, mit Klamotten, trotzdem aufschreckt und die Zähne noch putzt, weil in seiner Paranoiavorstellung über Nacht ganz viele Löcher entstehen. Umso besser. Liza wird es mir mal danken. Oder wahrscheinlich nicht. Wenn Freunde von uns mit ungefähr gleich alten Kindern uns erzählen, dass ihr Kind ein Loch im Zahn hat, tue ich so, als wäre es ganz normal, in Wirklichkeit denke ich aber dann, o Gott, was für eine schlechte Mutter ist das denn! Ich hole mir richtig einen darauf runter, dass mein Kind noch kein Loch im Zahn hat. Mein Verdienst, ganz alleine mein Verdienst. Ha!
    Danach gehen wir ins Kinderzimmer, ich lege mich neben das Kind und lese vor. Wir lesen grad Gullivers Reisen .
    Sie fragt: »Mama, warum flüsterst du?«
    Keine Ahnung, ich muss selber überlegen, warum.

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