Schossgebete
»Ehm, damit es spannender ist?«
»Hör auf damit.«
Ich lese weiter, ohne zu flüstern. Dann mache ich an einer schlechten Stelle Schluss und lasse mich meistens noch zu einer Leseverlängerung überreden. Hab ich von Jan-Uwe Rogge gelernt. Man soll immer konsequent und hart sein, aber dem Kind auch manchmal beibringen, dass es mit Charme und guten Argumenten die Härte der Eltern aufbrechen kann. Es soll lernen zu überzeugen. Das lernt sie bei mir.
Ich singe ihr nach dem Lesen jeden Abend die beiden Lieder vor, die ich ihr beim Stillen schon vorgesungen habe, damit sie Konstanten im Leben kennenlernt, das, was ich nie hatte. Erst: »Schlaf, Kindchen, schlaf«, danach das englische Kinderlied »Bah, Bah, Black Sheep«, darin geht es um ein Schaf, das seine eigene Wolle zu den Kunden nach Hause bringt, keine Ahnung, was uns das sagen soll.
Schließlich muss ich bei ihr liegen bleiben, bis sie eingeschlafen ist. Wir wohnen in einer Art Kellerverlies. Es gibt nur zwei Fenster zur Straße, am Wohnzimmer und an der Küche. Die Vorbesitzer der Wohnung bauten in all den Jahren, die sie da wohnten, immer weiter an, höchstwahrscheinlich illegal. Das würde kein Bauamt mehr erlauben, was die da abgefackelt haben. Lange, schmale Gänge ohne Fenster, minikleine Zimmer ohne Fenster, alles extrem fußkalt, weil es ja bis unter die Erde gebaut ist, wie ein Hasenbau, jeder verläuft sich darin, auch Liza noch manchmal. Es ist eine richtig anale Wohnung, die Flure und die Zimmer sind wie unterirdische Gedärme.
Ich mache mir langsam Sorgen, ob diese Wohnung uns Glück bringt. Als wir frischverliebt einzogen, war uns die Vorgeschichte egal. Jetzt, wo die erste Verliebtheit weg ist, kommt mir die Geschichte unserer Vorbesitzer schlimmer vor. Man denkt, frischverliebt, man ist immun gegen alles Schlechte, wenn sich aber der Alltag in die Liebe eingeschlichen hat, merkt man, dass man doch nicht so besonders ist, wie man am Anfang so arrogant dachte, plötzlich ist das schlechte Schicksal anderer auch für uns denkbar. Sie hatte Geld, aus Bankgeschäften, er war nur einfacher Arbeiter. Sie baut körperlich ab. Er erst mit, dann bekommt er eine neue Leber und ist plötzlich wieder richtig gesund und munter. Er haut ab, weil er sie nicht mehr erträgt.
Und in so eine Wohnung ziehen wir ein, ohne einmal nachzudenken! In einem Film würde jeder denken: Oho, nicht da einziehen, da ist doch der Ärger vorprogrammiert. Oder man weiß es nicht und zieht deswegen ein. Aber doch nicht sehenden Auges.
Liza liegt da und tut so, als würde sie einschlafen wollen. Ich habe als gutes Vorbild die Augen geschlossen und atme tief, erst aus, dann ein, habe ich mal von einer Masseurin gelernt, um mich selber bei Panikattacken zu beruhigen. Man schläft dann besser ein, weil man plötzlich denkt, man hat das Leben doch im Griff. Wahnsinn. Das zeigt auch mal, wie schlecht man sonst den ganzen Tag atmet. Ich horche darauf, ob sich ihre Atmung verändert, von so tun, als ob man schläft, zu wirklich tief und fest schlafen. Plötzlich spricht sie in die Dunkelheit hinein.
»Mama, gibt es den Hitler eigentlich noch?«
»Wie kommst du denn jetzt auf den?« Oh, Mann, bitte schlaf endlich ein. Schlimm.
»In der Schule hat ein Kind das zum anderen gesagt, als die sich gestritten haben. Du bist ja so schlimm wie Hitler.«
»Nein, mach dir keine Sorgen. Der hat sich vor langer, langer Zeit selber umgebracht.«
»Da bin ich aber froh. Dann kann ich jetzt einschlafen. Wäre der denn sonst, wenn der sich nicht umgebracht hätte, im Gefängnis?«
»Klar wäre der dann im Gefängnis. Der hat so viele Menschen umgebracht.«
»Mama, kennen wir jemanden, der im Gefängnis ist?«
»Warum?«
»Ich würde gern mal jemanden im Gefängnis besuchen. Ich will mal sehen, wie das da drin aussieht.«
»Nee, leider nicht. Aber vielleicht bald.«
Ich würde mich so gerne an dem Herausgeber der Zeitung rächen, die aus dem Unfall in unserer Familie damals ihr widerliches Blutgafferkapital geschlagen hat. Ich würde sofort eine Untergrund-Terrororganisation gründen, wenn ich keinen Mann und kein Kind hätte. Ich habe mir geschworen, sobald mein Kind aus dem Gröbsten raus ist, mich umzubringen, weil ich mich sowieso umbringen will, und dann die Hauptverantwortlichen mitzunehmen. Wenn ich mich traue. Wenn der Plan funktioniert und ich nicht sterbe, gehe ich für den vorsätzlichen Mord an mindestens drei Personen ins Gefängnis, wer weiß, wer da sonst noch in der
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