Schossgebete
Zimmer springt. Sie hat Angst vor Einbrechern. Und Angst vor Menschen, die Kinder klauen. Angst vor Geistern. Hexen. Wölfen. Füchsen. Dachsen. Skeletten. Echsen. Aber nur abends. Nie tagsüber. Frau Drescher sagt, das seien die inneren Ängste, die ein Kind nach außen kehrt. Kinder haben Angst vor dem eigenen Bösen in sich. Wenn sie mal sauer sind auf die Eltern und sich klammheimlich wünschen, dass die Eltern tot sein sollen, haben sie direkt danach wieder ein schlechtes Gewissen und projizieren das Böse in sich lieber auf ein böses Tier, das sie angreifen und gefährden könnte, dann bleiben sie weiter unschuldig und lieber Opfer als Täter.
Mein erster Impuls, als meine Tochter mit diesen Ängsten anfing, war, ihr zu erzählen, dass das alles Quatsch ist mit den Tieren im Garten und im Haus. Es gibt keine Geister, mein Kind, kein Mensch auf der ganzen Welt hat jemals einen Geist gesehen, jedenfalls kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat. Ich habe dann von meiner Therapeutin erfahren, dass das der völlig falsche Ansatz ist. Wenn ich dem Kind ständig erzähle, dass all seine Ängste Quatsch sind, also versuche der Sache mit vernünftigen Argumenten beizukommen, wird das Kind irgendwann einfach aufhören, mir davon zu erzählen. Und würde dann zwar immer noch genauso viele Ängste mit sich rumtragen, aber es einfach verheimlichen, weil die ja Quatsch sind und es sich nicht lächerlich machen will. Und dann muss es ganz alleine damit klarkommen, wodurch die Ängste eher größer und unkontrollierbarer werden. Das habe ich als gute Mutter gelernt und sofort umgesetzt. Das heißt, ich nehme sie mit ihren Ängsten ernst. Das ist übrigens eine Sache, die mir in der Beziehung mit meinem Mann genauso wie bei der Erziehung meiner Tochter aufgefallen ist: dass das Naheliegendste, und wenn es noch so gut gemeint ist, falsch ist und eher alles schlimmer macht. Ich horche oft in mich rein, denke mir eine Lösung aus und liege dann völlig daneben, wenn ich mich bei Profis rückversichere. Darum empfehle ich jedem, der ein Kind hat oder einen Mann oder eine Frau, eine Therapie zu machen. Wenn man sich das nicht leisten kann, bitte wenigstens einen Ratgeber lesen.
Seitdem ich eines Besseren belehrt wurde, rede ich mit Liza darüber, wie die Hexe genau aussieht, die unter dem Schrank wohnt, ich guck sie mir auch manchmal an, da unterm Schrank, sie ist so groß wie eine Ratte, das sagen wir ihr auch ins Gesicht, eine Hexe kann das ab, und wir überlegen gemeinsam, ob sie überhaupt unbedingt böse sein muss, weil sie bis jetzt ja gar nichts Böses gemacht hat, obwohl sie die ganze Zeit bei uns wohnt, ähnlich wie auch die meisten Terroristen. Wenn die Hexe an einem Abend besonders aufdringlich ist, frage ich Liza, ob ich sie aus dem Fenster werfen soll. Mein Kind erteilt mir den Auftrag, dann öffne ich das Fenster, und unter viel kindlichem Gelächter fuchtel ich unter dem Schrank rum, lass mir ein paarmal in den Finger beißen, halte die Hexe dann mit beiden Händen im Nacken und am Rücken fest, damit sie mich mit den Zähnen nicht erwischen kann, bugsiere sie aus dem Fenster und werfe sie in hohem Bogen in den Garten, mit der Bitte, in dieser Nacht draußen zu bleiben. »Morgen lassen wir dich dann wieder rein, du freche, kleine, miese Monsterhexe.« Meine Tochter lacht und guckt mich dankbar an. Dann kann sie schlafen. Und ich bin meiner Therapeutin unendlich dankbar, weil ich auf so eine Scheiße von alleine nie gekommen wäre.
Ich schließe Lizas Tür, die zu unserem Schlafzimmer geht, die zum Wohnzimmer muss aufbleiben, damit wir sie hören, schleiche dann nach oben und hoffe inständig, dass sie sich nicht noch mal meldet heute!
Ich setze mich neben meinen Mann und muss ein paarmal tief durchatmen. Ich wechsele meine Persönlichkeit von der Mutter zur Hure. Bis mein Kind morgen früh aufsteht und ich wieder Mutter sein muss, bin ich abwechselnd Ehefrau und Hure. Obwohl ich nachts eher wieder Mutter bin, wenn ich schlafe. Ich schlafe mit Alarmohren. Seit sieben Jahren, das hat mir auch keiner gesagt, bevor ich ein Kind bekommen habe. Jetzt erst mal nur Hure, weil mein Mann und ich verabredet sind heute Abend, wenn das Kind endlich schläft und die Erwachsenenzeit des Tages anfängt.
Wir werden unseren morgigen Puffbesuch planen. Das war vor vielen Jahren die Idee von meinem Mann. Er hatte Lust, mal mit einem anderen Körper als meinem zu schlafen. Musste ich erst mal lange drüber nachdenken. Kam
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