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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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auszumalen. Ich denke mir alles bis ins kleinste Detail aus. Ich quäle mich damit selber. Nur wenn ich die Angst mit Hypersexualität überlagere, bin ich angstfrei. Das habe ich in der Therapie gelernt. Dann kann ich das Leben ganz kurz genießen, denke, ich weiß, wofür ich lebe. Meine Therapeutin nennt das Angsterregung. Angsterregung fühlt sich ähnlich an wie Sexerregung. Bei mir gibt es nur das eine oder das andere. Entweder das eine Extrem oder das andere. Frau Drescher sagt, ich versuche nur, der Angst mit Sex zu entfliehen, das ist das einzige Gefühl, das die Angst manchmal ganz kurz überlagern kann. Es ist aber nicht die Lösung meiner Probleme. Schade. Sie sagt, ich muss die Probleme in mir lösen und nicht nach außen transportieren.
    Ich könnte gut zehnmal am Tag Sex haben, damit könnte ich viel Anspannung ableiten. Aber meistens entscheide ich mich für gedankliches Selbstquälen. Das geht so: Jeden Abend liege ich in meinem Bett und gucke an die Decke. Da ist ein Riss im Putz. Ich beobachte ihn jeden Tag und bin mir sicher, er wird immer größer. Sodass ich langsam davon ausgehen muss, dass es nicht nur ein Riss im Putz, sondern auch im Mauerwerk ist.
    Wir wohnen in einem Vierparteienhaus. Die Wohnungen übereinander. Alles über uns. Wir im Erdgeschoss. Wenn das mal einkrachen sollte, weil es schlecht gebaut wurde, bin ich gewappnet. Weil ich es schon so oft durchgespielt habe im Kopf. Rechts von meiner Seite des Bettes ist eine tragende Wand, wenn ich einkrachende Geräusche hören sollte, rolle ich mich aus dem Bett, warte, bis alles zusammengefallen ist, und krieche die Wand entlang in das Kinderzimmer, um dort meine erschlagene Tochter zu finden. Dann krieche ich zurück, um meinen erschlagenen, zerquetschten Mann zu sehen, ich habe immer mein Telefon am Bett wie auch ein Messer mit einer langen, scharfen Klinge, falls Einbrecher ins Haus kommen. Ich schwöre, ich steche den ab. Bei einem Hauseinsturz wähle ich den Notruf und habe als Einzige im ganzen Haus überlebt. Weil mein Leben ohne Mann und Kind keinen Sinn mehr ergibt, bringe ich mich ein paar Tage danach in der psychiatrischen Klinik, in die ich zur Erholung und Traumatherapie eingewiesen wurde, um. Das spiele ich jeden Abend im Kopf durch mit ständig wechselnden Enden der Geschichte. Aber dass das Haus bald einkracht, das ist sicher. Meine Therapeutin sagt, dass Leute, die Angst haben, dass das Gebäude um sie herum einkracht, schon ein eingekrachtes inneres Gebäude haben. Sie projizieren die inneren Ängste auf das äußere Gebäude, das sie umgibt. Innen aber kracht alles zusammen, nicht außen.
    Es nützt auch nichts, sich selber damit zu beruhigen, dass in Deutschland nie was einstürzt, weil alles so toll spießig gebaut wurde, mit gutem Fundament. Ich lebe ja in meiner wilden Phantasie. Da dringt nichts Rationales zu mir durch. Leider.
    In unserer Wohnung fühle ich mich oft wie in einer Familiengruft. Der Tod liegt immer zwischen mir und meinem Mann im Bett. Ich habe meinen Mann in den Jahren, die wir zusammen sind und dort wohnen, schon Hunderte Male gefragt, ob er nicht auch findet, dass der Riss im Putz immer größer wird. Er verdreht jedes Mal die Augen, guckt sich das an, so wie ich für meine Tochter die Hexe unterm Schrank angucke, und sagt: »Nein, ist nicht größer geworden.« In diesen Momenten spricht er mit mir wie mit einer Irren, in beruhigendem Basston. Das kotzt mich an, meinen Wahnsinn in seiner Stimme zu hören.
    Ich frage ihn nur noch im äußersten Notfall, wenn ich mir wirklich mehr Sorgen mache als gewöhnlich, weil ich eigentlich meistens schon weiß, dass er mich anlügt und Nein sagt. Es ist sehr wichtig zu erwähnen, dass meine Therapeutin rausgefunden hat, dass ich gar keine Angst habe zu sterben, mit dem Tod und dem Sterben an sich habe ich kein Problem, ich habe den Tod immer schön nah bei mir, er ist ein guter Kumpel. Nein, mein Problem ist der Kontrollverlust. Ich möchte nur dann nicht sterben, wenn man es hätte verhindern können. Wenn ich krank würde, man könnte nichts mehr machen, ich würde mich einfach fügen. Aber durch eine dumme Unaufmerksamkeit zu sterben, das soll mir und meinen Nächsten nicht passieren. Ich bin immer in Alarmbereitschaft, um das Leben unserer Kleinstfamilie zu retten.
    Ich erzähle meinem Mann auf der Couch, dass das ja wohl morgen nichts wird mit unserem Puffbesuch. Er bemerkt mein kleines Grinsen in der Backe. Und sagt: »Da freust du dich, ne?

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