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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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ganz lange nachdenken. Ich will jetzt nichts Falsches sagen. Vielleicht sterben die, wenn ich falsche Namen nenne. Achtung, Achtung. Pass auf, Elizabeth, konzentrier dich! Einmal im Leben! Mein Hirn hat sich im Schock fast ganz ausgeschaltet. Ich soll jetzt Namen aufzählen. Ich muss ihm jetzt aufzählen, wer tot ist? Ich denk, der ruft mich an, um mir zu sagen, wer tot ist? Denk nach, du hast sie grad noch alle auf der Wiese rumturnen sehen, streng dich an, du sprichst das jetzt aus:
    »Mama –
    Harry –
    Lukas –
    Paul –
    Rhea.«
    Ich höre, wie er mitschreibt. Er steht auch unter Schock. Hat Angst, die Namen zu vergessen. Nur den einen wird er nicht vergessen. Ich hab ihm gesagt, dass sein Sohn mit im Auto war.
    Mehr nicht? Oder? Nein? Alles richtig? Alle Namen richtig? Mein Hirn tut weh, die Augen sind nur noch Schlitze, das Licht tut darin weh.
    Mitten im Ausgangsbereich versagen meine Beine, ich sinke zu Boden. Mein Freund setzt sich neben mich, er stiert mich an, er weiß, es muss schrecklich sein, was ich da grad höre. Alle Verwandten bleiben stehen und gucken uns nur an.
    Alle sind sehr ernst, nur die scheiß Kinder nicht. Es wird still, ich sehe nur noch, dass die Kinder schreien, ich höre sie nicht mehr. Ich will nie wieder von diesem Fleck aufstehen. Der Körper hat jede Kraft verloren. Ich implodiere.
    Ich denke ganz lange nach, es ist schwer, mühsam, langsam, das Nachdenken. Das Hirn blockiert.
    »Auch Mama ist tot?«
    »Ja, alle. Die sagen, wir sollen davon ausgehen.«
    Mir schießt ein neuer Gedanke in den Kopf: Was ist mit meinem Kleid? Das war doch in dem Auto. Auf dem Auto. Obendrauf. Ist das auch tot? Ist das auch kaputt? Ich traue mich nicht zu fragen danach. Ich bin wie besessen von der Idee, dass meinem Kleid nichts passiert sein darf. Ich kann mir plötzlich nichts Schlimmeres vorstellen. Mein Hochzeitskleid. Das hat doch so viel gekostet. All die Anproben! Ich muss doch der Schneiderin ein Foto geben, wie ich es anhabe. Das habe ich ihr versprochen.
    Diese Reaktion in meinem Kopf ist mir bis heute peinlich. Meine Therapeutin sagt mir aber, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Der Kopf macht komische Sachen mit uns, wenn wir Schreckliches erfahren. Ich war einfach nicht in der Lage zu kapieren, dass alle tot sind. Ich war aber sehr wohl in der Lage zu kapieren, dass mein Kleid weg sein könnte. Das ist dann, als Ersatz, nicht so schmerzhaft wie Menschenverlust. Die Rollos gehen im Kopf runter und lassen nur kleine, ganze wenige, nicht so schmerzhafte Gedanken zu.
    Mein Vater steht auch unter Schock. Nur deswegen schlägt er vor, dass wir trotzdem heiraten. Er sagt, das darf uns nicht dran hindern. Ihm ist auch das Ausmaß der Sache kein bisschen bewusst. Er sagt, er müsse jetzt wieder auflegen, damit er weiterhin für die Polizei erreichbar sei, und legt auf.
    Danach bin ich wie ferngesteuert. Mein Körper macht alles automatisch. Ich wiederhole für meinen Freund und seine Familie im genauen Wortlaut alles, was mein Vater gesagt hat. Alle sind sprachlos und starren mich einfach an. Niemand sagt etwas. Wir stören sehr den Durchlaufverkehr der anderen Passagiere, aber das ist uns völlig egal, wir bleiben einfach auf dem Boden am Zoll sitzen und denken nach. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wir sitzen noch Ewigkeiten da rum.
    Die Nachricht meines Vaters hat mich bis heute zu einem sehr verwirrten Menschen gemacht, das spielt in jede Entscheidung mit rein, vor allem mein Mann muss das alles ausbaden, der Arme! Der hat aber auch viel davon, weil ich mir dafür, praktisch als Gegenleistung zu meinen anstrengenden psychischen Störungen, beim Blasen so viel Mühe gebe, aus Dankbarkeit, dass er es so lange mit mir gehetztem Unfalltier aushält.
    Also: Er nimmt nicht das spektakuläre Angebot an, meine Würmer anzugucken. Ich soll alleine damit klarkommen. Alles klar. Vielen Dank. Das ist das letzte Mal, dass ich dir so was Gutes anbiete.
    »Aber wenn mir die Gedärme raushängen würden, würdest du mir helfen? Sicher? Dann würdest du gucken, oder?«
    »Klar würde ich das. Weißt du doch. Wenn wirklich was Schlimmes wäre, dann rette ich dich doch.«
    Danke. Ich lehne mich an ihn. Hoffentlich passiert mir bald mal was Schreckliches. Es kann doch nicht immer so weitergehen, dass ich mir seit dem Unfall die schrecklichsten Sachen vorstelle, aber niemals irgendwas davon eintritt. Ich habe eine Wahnsinnsphantasie. Die nur damit beschäftigt ist, sich Horrorszenarien

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