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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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wütend. Für so einen Mann hab ich meine Eltern verlassen, na toll! Dann bin ich wohl ganz allein! Kann keine Hilfe von niemandem erwarten, muss alle ekelhaften Krankheiten allein durchstehen, mit all den Bildern, die das im Kopf hinterlässt.
    Ich möchte, dass er die Bilder mit mir teilt. Und er will nicht belämmert werden damit, möchte mich rein in Erinnerung behalten, damit er später noch einen hochkriegt, wenn er mich nackt sieht. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Das mache ich immer, wenn sich was Wahnhaftes zusammenbraut in mir.
    »Jetzt guck mich nicht so wütend an. Ich weiß genau, was du denkst.«
    Kunststück. Das lässt sich bei mir nicht lange verheimlichen.
    »Du denkst, ich helfe dir nicht in der schlimmsten Not. Aber Elizabeth, ich sage dir jetzt mal, wenn man Würmer hat, das ist nicht die schlimmste Not.«
    Er lacht mich aus. Er verhöhnt mich. Der Arsch. Er hat ja selber Würmer, hat aber nicht den Mumm, es zuzugeben vor mir!
    »Wenn du wirklich was Schlimmes hättest, egal, wie ekelhaft das wäre, ich würde hingucken, helfen, alles. Aber das hier muss nun wirklich nicht sein, es gibt keinen Grund, dass ich deine Würmer angucke und für immer mit diesem überflüssigen Bild im Kopf rumrenne. Wenn ich wählen kann, dann entscheide ich mich für unser Liebesleben und gegen diese Bilder im Kopf. Du fragst mich doch, und ich darf Nein sagen.«
    Scheißtherapeutendeutsch! Das hat der in der Paartherapie gelernt. Sich gegen mich abzugrenzen. Er soll nicht immer machen, was ich will, nur weil ich ständig ausraste und durchdrehe. Er und ich haben gelernt, dass er sich von mir niemals unter Druck setzen lassen darf. Er ist auch nicht für mein Glück zuständig. Ich darf ihn nicht mehr für mein Unglück verantwortlich machen. Das waren eher meine Eltern. Wenn ich kreuzunglücklich bin, woher kommt das Wort eigentlich? Weil Jesus am Kreuz so unglücklich war? Bestimmt. Dann kann er jedenfalls am wenigsten dafür. Er ist immer für mich da, trägt mich auf Händen, ich denke immer, es reicht nicht, aber ich bin einfach nicht glücklich zu machen. Ich bin nicht zu befriedigen und zu befrieden auch nicht. Nur durch mich. Und das ist ein langer Weg. Seit der Paartherapie hat er frei, und alle Probleme liegen bei mir. Ich bin ganz klar als der Aggressor in unserer Beziehung identifiziert worden. Ich erpresse, unterdrücke, ziehe ihn mit runter, und er soll sich jetzt nicht mehr davon beeindrucken lassen. Er soll eine Grenze ziehen, wie er das gerade bei den Würmern gemacht hat. Er soll sagen: »Das ist dein Problem. Bitte schön, raste ruhig aus. Ich kann nichts dafür, und ich kann erst recht nicht helfen. Du bist unglücklich, kannst dich aber nur selber retten oder gar nicht, auf keinen Fall kann ich das leisten.«
    Ich soll aufhören, ihn zu überfordern. Mir ging es früher vor der Paartherapie viel besser, weil ich aggressivst einfach ihn für alles verantwortlich machen konnte. Das hätte aber bald unsere Beziehung zerstört.
    Ich möchte keine Trauer empfinden, und deswegen werde ich aggressiv. Ich konnte im Kampf gegen meinen Mann nie meine Trauer spüren. Das war schön für mich. Schlecht für ihn. Jetzt, wo ich ihn in Ruhe lassen soll und ihn nicht mehr dafür verantwortlich machen kann, was meine Eltern getan haben, was ich im Leben an Schrecklichem erlebt habe, muss ich alles für mich behalten und gehe fast daran zugrunde. Und mein Mann muss mir einfach, ohne mir helfen zu dürfen, dabei zugucken. Die Trauer, die ich nicht spüren will, kommt von diesem Anruf, damals am Flughafen im Zollbereich.
    Mein Vater sagt am Telefon zu mir:
    »Elizabeth. Du musst jetzt ganz stark sein.«
    Wie im Film. In meinen Ohren fängt es an zu rauschen. Ich bleibe stehen und mache höchstwahrscheinlich ein schlimmes Gesicht. Mein Freund guckt mich ganz entsetzt an.
    »Es hat einen ganz schweren Unfall gegeben auf der Autobahn. Eine Massenkarambolage. Die belgische Polizei hat mich gerade angerufen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle, die im Auto saßen, tot sind. Sagen die.«
    Lange Pause.
    »Jetzt frage ich dich: Wer war im Auto?«
    »Was? Was? Was?«
    »Wer war im Auto, Elizabeth?«
    Wie: Wer war im Auto, Elizabeth? Er weiß es nicht? Er weiß es nicht. Die sagen dem, alle sind tot. Aber wissen nicht, wer im Auto war? Hä?
    »Sag nicht, dass Harry im Auto war, sag, dass er bei euch ist. Ist er geflogen? Sag was!«
    Das ist sein einziger Sohn. Mein Bruder, der am nächsten an mir dran ist. Ich muss

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