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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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er da schon machen? Das lernt man nicht in der Schule. Die wichtigen Sachen. Man kennt das nur aus Filmen, aus Kriegsfilmen. Fünf Menschen gleichzeitig tot. Das ist ein Kriegseinschlag in unsere Familie. Bombe draufgeworfen. Ich kann die meiste Zeit nur denken: Was ist mit meinem Kleid? Wehe, das ist kaputt.
    Zu viel mehr ist mein Hirn nicht fähig. Und ab und zu denke ich: Hoffentlich ist meine Mutter nicht tot. Dann will ich auch nicht mehr leben. Wir sind sehr eng. Zu eng. Ich sitze immer noch meistens auf ihrem Schoß, wenn ich sie sehe. In meiner Kindheit waren wir eng, in der Pubertät so weit auseinander, wie man nur sein kann, und als die Pubertätswolken sich verzogen hatten, wieder genauso eng wie in der Kindheit. Eine fatale Nähe. Ich durfte nicht erwachsen Abstand zu meiner Mutter gewinnen, ich durfte nur eng oder gar nicht.
    In diesem Bus, auf der Fahrt zu meinem Onkel und meiner Tante, dachte ich oft: Scheiß doch auf alle anderen in dem Auto! Bitte. Hauptsache, meine Mutter ist nicht tot. Im Kopf bot ich alle anderen zum Tausch an, ich bot meine Geschwister und die Freundin von meinem Bruder dem Schicksal, dem lieben Gott, dem Teufel, mir egal, wer das ist, an. Nur meine Mutter durfte nicht tot sein. Weil ich ohne sie nicht leben kann. Nicht leben will. Daran sieht man, wie beschissen Glaube ist. In dem Moment, wo die schrecklichsten Dinge passieren, wo man so schwach ist wie sonst nie, fängt man an zu spinnen. Das ist ja schon der Beweis dafür, wie menschengemacht Gott und Glaube sind. Nur weil man es gerne hätte, ist das noch lange nicht so. Das alles kommt nur von der Verzweiflung, dass alles sinnlos ist und wir einsam und verloren im Weltall sind. Wenn das Schicksal zuschlägt, ist das auch nur ein Zufall. Oder menschengemacht. Jeder Unfall. Schicksal, wenn man juristisch unschuldig dran ist, oder selber schuld, wenn man den Unfall verursacht hat. Mehr gibt es nicht.
    Deswegen bin ich so sauer auf Christen, genauso wie auf Frauen, die sich Silikon in die Brüste stopfen. Weil beides the easy way out ist. Christen halten die seelische Obdachlosigkeit nicht aus, wie ich sie mein Leben lang in vollem Bewusstsein aushalte: Das Leben ist sinnlos, die Erde ist sinnlos, wir sind Zufall, und es gibt niemals ein Leben nach dem Tod. Die denken sich einfach als Selbsttröster ein Leben nach dem Tod aus, weil sie es gerne, so dringend gerne, hätten, dass wir wichtiger oder besonderer sind als Tiere. Sie reden sich ein, für sie kommt danach noch der Himmel. You wish! Lustigerweise sind es immer die angeblichen Christen, die am meisten ausflippen, wenn sie jemand Geliebtes verlieren, dabei sind die doch angeblich so sicher, dass die sich bald wiedersehen. An der Reaktion auf den Tod geliebter Menschen kann man erkennen, dass sie ihren eigenen Schmu nicht glauben. Mit den Brüsten, die man hat, sollte man vielleicht einfach klarkommen, genauso wie mit der Sinnlosigkeit des Lebens!
    Mein Mann ist immer noch sichtlich enttäuscht, dass der Puff morgen ausfällt. Er schmollt. Diesmal kann ich doch wirklich kaum was dafür, dass der Besuch ausfällt. Ich habe mir ja die Würmer nicht selber eingepflanzt. Er denkt aber bestimmt, mir wäre sogar das zuzutrauen.
    Ich möchte weg von dieser beklemmenden Stimmung auf der Couch und sage: »Ich geh schlafen.«
    Als erwachsene Frau kann man aber leider nicht einfach schlafen gehen, wie man das möchte. Man muss die ganze Farbe aus dem Gesicht rauswaschen, die man morgens dahingepinselt hat, mit speziellen Lösungsmitteln, die Abschminkzeug heißen. Man muss sich ganz lange die Zähne putzen, als Vorbild für seine Kinder, die gar nicht zugucken! Die langen Haare kämmen, damit es morgen nicht so schlimm wird mit den Knoten. Ausziehen, dreckige Unterhose und Socken in den alten Rattanwäschekorb und den schon etwas muffigen alten Schlafanzug anziehen, der an seinem Haken innen an der Badezimmertür hängt.
    Wir versuchen, so wenig wie möglich zu waschen, für die Umwelt, unsere Ersatzreligion. Und dazu gehört zum Beispiel, sehr, sehr oft den gleichen stinkigen Schlafanzug anzuziehen. Wir wechseln auch so wenig wie nur möglich die Bettwäsche. Dadurch haben unsere Schlafzimmer geruchsmäßig was Höhlenartiges. Ich denke immer: So hat es auch bei den Neandertalern gerochen, nach Menschentalg. Nur wenn wir in Kontakt mit fremden Menschen treten, draußen, achten wir darauf, nicht mehr zu stinken, zu Hause ist alles der Umwelt untergeordnet. Bei den ganzen Dingen, die

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