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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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wir tun müssen, bevor wir endlich ins Bett dürfen, gibt es zwischen mir und meinem Mann einen richtigen Wettbewerb, wer in das große Badezimmer darf und wer das alles im kleinen Gästeklo erledigen muss.
    Wir versuchen alles besser zu machen als in unseren Beziehungen davor, weil wir doch für immer zusammenbleiben wollen, müssen, wie auch immer. Und auf jeden Fall schalten wir dann schon mal alle Fehler aus, die in früheren Beziehungen zum Tod geführt haben. Wir machen nichts, was mit Körperhygiene zu tun hat, voreinander: Zähneputzen, Waschen, Nägel schneiden, Groß, Klein. Das haben wir früher vor unseren Partnern gemacht, und das haben wir als Problem herausanalysiert.
    Ich besetze grad das Badezimmer, da muss ich mir keine Sorgen machen, dass er reinkommt und mich bei all diesen Handlungen sieht. Ich lege mich danach in unser muffiges Bett. Ich habe ein Drittel des Doppelbetts, weil ich sehr klein bin, er bekommt zwei Drittel, weil er so groß ist. Auch wenn ich schlafe, entspanne ich mich nicht, ich kontrolliere alles. Dass er genug Platz hat, dass ich nicht im Bett furze, vor ihm, das, glaube ich, ist auch schlecht für das ewige Zusammensein. Er macht das öfters vor mir, wenn ich noch nicht schlafe, er lässt dann ganz los. Das will ich umgekehrt nicht können. Sonst werde ich verlassen.
    Ich lege mich in unser verschwitztes, talgiges, vollgespermtes Bett und gucke an die Decke. Ja. Da ist er wieder, mein geliebter Riss in der Decke, ich starre ihn an. Und stelle mir ganz genau vor, wie ich mich und meine Familie vor dem sicheren Zerquetschungstod rette, wenn das alles über uns zusammenstürzt. Ich bin auf alles gefasst. Ich lasse mich vom Tod nicht mehr überraschen. Nein, nie wieder! Der Tod liegt auf mir, wenn ich einschlafe, er ist da, wenn ich aufwache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals wieder aufhört. Egal, wie viele tausend Stunden ich zu Agnetha gehe. Der Unfall und sein detaillierter Ablauf verfolgen mich, vor allem wenn ich alleine bin, wie ich jetzt so daliege, bereit, zerquetscht zu werden von der Betondecke.
    Frau Drescher hat mir beigebracht, dass ein Trauma so schmerzhaft ist, weil es eine offene Wunde ist, sie heilt nicht zu. Der Unfall und alles, was daran hängt, fühlt sich so an, als wäre er vor ein paar Tagen passiert. Es fühlt sich nicht an, als wäre die Zeit seitdem vergangen. Ich bin gefangen in den Tagen, in denen das passierte, ich komme einfach nicht drüber hinweg. Der Film im Kopf spielt sich immer wieder von Neuem ab. Vielleicht hört das ja mal auf. Glaube ich aber nicht. Ich habe mich schon so an diesen Begleiter gewöhnt in den vergangenen acht Jahren, kann mir ein Leben nicht mehr ohne diesen Film vorstellen. Diesen Horrorfilm.
    Der englische Busfahrer lässt uns bei meinen Verwandten raus. Sie stürmen direkt aus dem Haus, um uns in Empfang zu nehmen. Sie umarmen mich ganz lange und gucken mich mitleidig an. Sie machen das ziemlich schlecht. Weil sie auch nicht wissen, wie das genau geht. Was man da sagt. Ich habe da schon Blut geleckt. Mir gefällt direkt diese Sonderstellung, die man dann bekommt. Sie fixieren mich, gucken mir in die Augen. Versuchen herauszufinden, was das mit einem Menschen macht, der solch eine Nachricht bekommt: Deine Mutter und drei deiner Brüder sind tot! Da fing meine Sucht nach Mitleid an. Das ewige Leid. Im Vergleich zu den Menschen um einen rum. Immer in einer Sonderstellung. Wie eine Heilige. Alle sollen denken: Ich beiße mich durch. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich gebe nicht auf, und dafür werde ich bewundert. Es ist auch wirklich schön, bis heute, so wie ein Überwesen bemitleidet zu werden, sodass ich mich auch schon ein bisschen freue, irgendwann mein Kind zu betrauern und meinen Mann. Meine Therapeutin würde jetzt sagen, nur damit das jetzt nicht so böse klingt: Sie versuchen, sich mit der schlimmsten Vorstellung anzufreunden, damit es dann nicht so schlimm ist, wenn es eintritt. Ja ja, kann sein, ich sehe mich ständig in den Phantasien alleine, mit totem Kind und totem Mann, weil ich versagt habe und sie nicht beschützen konnte, vor weiß der Geier was.
    Wir gehen mit meiner Tante und meinem Onkel ins Haus. Und trinken sofort am helllichten Tag viel Alkohol. Erst Dosenbier, die großen Behälter, mit null Komma fünf Liter drin. Danach Hochprozentiges. Was soll man sonst von einer kompletten Alkoholikerfamilie erwarten? Trotzdem bleibe ich seltsam nüchtern. Muss der Schock sein. Wir sitzen da um

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