Schossgebete
geht nicht.
Wir legen uns ins Gästezimmer. Hier ist alles dunkellila, wie das Toilettenpapier auf dem Gästeklo. Wir starren an die Decke, erschöpft vom Verarbeiten, von den guten und den schlechten Nachrichten. Schweigen uns an und schlafen weg. Man kann einander nicht helfen dabei. Das hab ich am ersten Tag schon gemerkt. Jeder ist für sich allein.
Da fing das an. Das Alleineverarbeiten. Das unterschiedliche Trauern. Der Ekel vor der Trauer der anderen. So ein Erlebnis bringt nicht zusammen, das treibt auseinander. Wir halten nicht zusammen. Wir halten auseinander.
Wir werden mit Tee am Bett geweckt.
»Morning, wakiwaki.« Das sagen alle in unserer Familie, um jemanden aufzuwecken. We have to leave for the airport soon .
Kopfschmerzen, scheiß Alkohol. Kann nicht jemand was erfinden, was man mit dem Alkohol mittrinkt und über Nacht den Kater wegmacht? Superprimitiv, die Menschheit, eigentlich.
Wir waschen uns beide nicht. Man muss sich auf das Wesentliche konzentrieren in solch einer Situation. Lassen die Klamotten einfach an, in denen wir geschlafen haben, essen ungesundes englisches Frühstück. Es gibt Toastbrot mit salziger Butter und Marmelade, die mehr Zucker als Früchte enthält. Süßigkeiten schon zum Frühstück. Ekelhaft.
Mein Onkel ist normalerweise ein lustiger Kerl. Auf jedem Familienfoto hat er eine Dose Bier in der Hand, zeigt mit der anderen Hand einen Mittelfinger, lacht laut und rülpst. Das sieht man natürlich auf dem Foto nicht, aber man weiß, dass er gerülpst hat, weil man ja oft danebenstand, wenn Fotos gemacht wurden. Der Mund steht für den Rülpser auf jedem Bild weit offen. Er kann das ganz genau zeitlich abpassen, dass der Rülpser kommt, wenn das Blitzlicht geht. Das kann nicht jeder. Er fährt, und heute schweigt er. Er denkt bestimmt an seine große Schwester, die meine Mutter ist, die drei Kinder verloren hat, gestern. Gestern? Ja, gestern. Mein Zeitgefühl ist völlig hinüber. Wurde auch nie wieder gut. Bei einem Trauma ist das so: Das reißt so eine Wunde in die Seele, auch wenn es keine Seele gibt. Wie soll man das nennen? Herz? Bewusstsein? Es reißt jedenfalls so eine große Wunde in einen, dass man nie zeitlich Abstand dazu gewinnt. Die Wunde heilt nicht. Es schmerzt heute noch genauso wie an diesem ersten Tag auf dem Weg zum Flughafen im Auto mit meinem Fast-Ehemann und meinem Onkel.
Er setzt uns vor dem Gebäude ab. Wir checken ein und setzen uns in die Wartehalle. Da klingelt mein Telefon.
Eine fremde Nummer. Könnte das Krankenhaus meiner Mutter sein, mein Vater in Belgien, was weiß ich.
»Hallo?«
»Ja, spreche ich mit Elizabeth Kiehl?«
»Ja.«
»Hier spricht Paulsen, Druck -Zeitung. Frau Kiehl, es tut mir leid, dass ich Ihnen das jetzt mitteilen muss, Sie müssen jetzt sehr stark sein: Es hat einen Unfall gegeben, und dabei sind drei Brüder von Ihnen ums Leben gekommen. Eine erste Stellungnahme, bitte.«
Ich nehme das Telefon von meinem Ohr weg. Ich schweige. Ich bin klug. Ich will richtig reagieren. Wann kann man das schon von sich behaupten? Mein Freund fragt, wer das ist, was los ist. Ich habe schon wieder einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Muss sein, so wie der mich anguckt! Wir sitzen nebeneinander in der Wartehalle. Ich muss nachdenken. Halte meinen Zeigefinger vor meine Lippen, damit mein Freund nichts mehr sagt. Diese Bestie, das Böse, darf nicht noch mehr Informationen über uns bekommen. Gucke auf mein Telefon, die Leitung steht noch. Ich kann nicht fassen, was da grad passiert. Ich werde so wütend wie noch nie in meinem Leben. Die Wut ist bis heute genauso groß geblieben wie in dem Moment. Eine Zeitung, ein Mensch, der behauptet, da zu arbeiten, nimmt sich das Recht raus, bei mir anzurufen. In dieser Situation. Und meint auch noch, dass er befugt ist, mir diese Nachricht, wie er glaubt, als Erster zu übermitteln. Mich am Telefon für eine Geschichte, für Auflage, in dem schwächsten Moment meines Lebens zu vergewaltigen. Dieses Schwein übernimmt die Arbeit, die sonst die Polizei oder, in meinem Fall, mein Vater gemacht hat. Aber nicht um zu helfen, sondern um Geld damit zu machen.
Ich starre auf das Display. Der Mensch am anderen Ende hört nur in regelmäßigen Abständen meinen Mann flüsternd fragen, was los sei. Ich grusel ihn, weil ich so lange brauche, um zu antworten. So kriegen die also ihre Geschichten zusammen! Jeden Tag aufs Neue. So füllen die ihre Seiten. In dem Moment spürte ich, dass ich auf der Seite der
Weitere Kostenlose Bücher