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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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die Traurigkeit in meinem Leben an. Die Risse, die einfach immer größer wurden und niemals heilen. Aber, und daran halte ich mich krampfhaft fest, meine Tochter hat nur einen virtuellen Verlust. Die kennt es nur von anderen Kindern, dass ihre Eltern zusammen sind, oder aus Filmen und Büchern. Wenn wir aber mit ihr darüber reden, dass ihre Eltern früher zusammen waren, fängt sie an zu lachen, weil sie, seit sie auf der Welt ist, mich nur zusammen mit meinem neuen Mann kennt. In ihrer süßen Kindervorstellung habe ich mich wegen der besseren Gene entschlossen, mit einem Nachbarn ein Kind zu zeugen. Ihr Vater wohnt nämlich in direkter Nachbarschaft zu uns, damit sie immer hin und her gehen kann. Alles ist darauf ausgerichtet, ihr so viel Schmerz wie möglich zu ersparen.
    Das haben meine Eltern mir nicht geboten. Ich musste ständig umziehen, Schulen wechseln, Freunde verlieren, mich neu anpassen an die Begebenheiten, die Vergangenheit verdrängen, weil Mutter wieder einen ihrer Männer für tot erklärte. Immer das gleiche Muster: Mutter zog mit uns Kindern in das Haus eines Mannes, Vaterersatz, seid lieb zu ihm, nehmt ihn als Vater an, zwei Jahre Familienshow, Sex weg, Liebe weg, ausziehen, er wurde für tot erklärt.
    Auch war immer der Mann schuld an der Trennung, mit allen Kindern, inklusive der dazugekommenen, raus da, Sozialwohnung mit einer verarmten Mutter, neuer Mann, alle wieder in sein Haus, Familienshow und so weiter und so fort. Viermal habe ich das als Älteste erlebt. Im Nachhinein bin ich sehr sauer auf meine Mutter, immer der Libido nach, ohne Rücksicht auf Verluste, das versuche ich bis jetzt bei mir zu unterdrücken. Hauptsächlich für das Kind, aber auch für die Beziehung. Ist verdammt schwer. Wenn man Kinder hat, muss man sich doch wenigstens etwas am Riemen reißen, damit die Wurzeln schlagen können. Ich habe keine Wurzeln. Ich habe kein Elternhaus, keine Heimatstadt oder -dorf, wohin ich zurückkehren kann. Meine Tochter hat das schon. Sie ist ihr Leben lang an einem Ort. Und wir werden für sie immer an einem Ort bleiben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist für ein Kind, weil ich es nicht hatte. Ich finde es sehr schwer, an einem Ort zu bleiben, bei einem Mann zu bleiben, ich habe nur das Gegenteil gelernt: weglaufen.
    Wenn ich mir so böse Gedanken über meine Mutter mache, fällt mir aber auch wieder ein, dass das nicht immer so war. Dann sitze ich wieder in der Küche bei meiner Tante und habe Angst davor, meine schwer verbrannte Mutter anzurufen.
    Alles klar. Nicht anrufen ist also keine Option? Dann Augen auf und durch. Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich auf die Couch neben das Telefon. Ich gucke mich um, bemerke aus den Augenwinkeln, dass Freund, Tante und Onkel mir nachtrotten. Schrecklich, Familie! Sie sind so eingerichtet, wie Engländer eben eingerichtet sind. Etwas zu kitschig. Die Verneinung von Tod und Scheiße in der Tapete, in der Auswahl der Teppiche, der Couchgarnitur. Alles mit kleinen grünen Ranken, Blümchen in Rosa, ab und zu eine Blaumeise oder ein Eichhörnchen.
    Elektrische Gardinenschieber in der Erkerbeule des Fensters. Glasfiguren auf dem falschen Kaminsims. Und in jedem Haushalt meiner ganzen Familie väterlicher- und mütterlicherseits hängt die Uhr, die stündlich verschiedene Vogelstimmen abspielt, statt zu bimmeln. Der Erfinder dieser Uhr muss sehr reich sein.
    Sie setzen sich alle hin und beobachten mich. Ich mag diese Sonderrolle der alleine Leidenden. Was muss ich für Defizite haben, dass ich mir in dieser Rolle gefalle?
    Wir haben wie im Krieg drei Kinder verloren. In einer einzigen Familie. Wenn mein Vater nicht bald anruft und Gegenteiliges berichtet. Sonst müssen wir davon ausgehen. Vorher waren wir fünf Kinder meiner Mutter, jetzt wären wir nur noch zwei. Wenn das so bleibt. Hat die vielleicht deswegen so viele Kinder bekommen? Ich fand das immer sehr asi in unserer Familie. Fünf Kinder. Wie die Kötten. Sehr maßlos für heutige Verhältnisse. Aber vielleicht hat meine Mutter geahnt, dass es mal so einen Einschlag geben würde. Viele Kinder in die Welt setzen, dann bleiben wenigstens noch welche übrig, wenn drei sterben sollten. Da steckte ein Masterplan dahinter. Die ist gar nicht so asi, wie ich dachte. Die kann nur besser rechnen als ich!
    Ich wähle die Nummer, ohne mir vorher Gedanken zu machen, was ich genau sagen will.
    Ich zähle die Klingeltöne. Fünf. Sie geht ran.
    »Hello?«
    Sie ist Engländerin, sie sagt

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