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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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rechten Spur und transportiert einen riesigen Benzintank. Er sieht das Stauende vor ihm nicht rechtzeitig. Man weiß nicht, ob wegen Sekundenschlaf oder Unaufmerksamkeit. Vielleicht ist ihm eine Zigarette in den Schoß gefallen und hat ihm die Eier verbrannt. Jedenfalls hatte auch er nichts getrunken. Er fährt mit voller Geschwindigkeit auf das Stauende zu. Ungebremst. Das haben die Autofahrer, die am Stauende standen, im Rückspiegel gesehen und Glück gehabt. Er reißt sein Lenkrad kurz vor dem Aufprall nach links. Und reißt einen vollbesetzten Reisebus mit sich über die mittlere Leitplanke. Der Lkw und der Bus bilden eine Mauer auf der Gegenfahrbahn, also dort, wo meine Familie grad auf der rechten Spur fährt. Im Radio im Auto meiner Mutter läuft »Lucky Man« von The Verve. Zig Autos fahren ungebremst frontal in den schräg stehenden Bus und in den Lkw rein, die beide davon umkippen. Alle im Auto sehen die Mauer auf sich zukommen und schreien. Aufprall. Ohne dass meine Mutter den Fuß auf die Bremse stellen kann. Sieben Zentimeter. Zwischen Gas und Stopp.
    Stille. Lange. Als Erste wacht die Freundin meines Bruders auf. Rhea lebt. Die Airbags liegen auf dem Armaturenbrett. Sie guckt nicht nach links. Sie sitzt einfach da. Sie hört nichts. Stille. Rauschen im Kopf. Alles in Zeitlupe. Sie macht ihre Tür auf und will aussteigen. Sie bricht zusammen. Sie kann nicht stehen, weil ihre Beine zertrümmert sind. Sie liegt auf dem Boden neben dem Auto und robbt sich wie die kranken Gorillas im Nebel aus dem Film, den wir viel zu jung gucken mussten, damit wir Tierforscher werden oder wenigstens Umweltschützer, mehrere Meter weit vom Auto weg. Sie legt sich auf den grünen Seitenstreifen und bleibt liegen. Sie dreht ihren Kopf von rechts nach links und guckt, was um sie rum passiert. Sie sieht viele Autos, die vor der riesigen Unfallstelle an der Ausfahrt einfach abfahren, anstatt auszusteigen und zu helfen. Ich möchte nicht zu so einer Menschheit gehören, die das fertigbringt! Viele sind tot, viele sind verletzt. Die Familien in dem Reisebus haben ein Loch in die Scheibe geschlagen und klettern nacheinander heraus.
    Irgendwann, nachdem Rhea weg ist, erwacht meine Mutter aus ihrer Ohnmacht. Und sitzt einfach so da. So ist das wohl in einem solch schweren Schockzustand. Man macht eigentlich gar nichts mehr. Ist nur noch zurückgeworfen auf die minimalsten Dinge. Das Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. Das Herz schlägt, mehr aber auch nicht.
    Sie sitzt und sitzt und sitzt. Und wundert sich über die Stille im Auto. Sie dreht sich nicht um. Sie guckt nicht ihre Kinder an. Sie ist keine Mutter mehr, die sich um ihre Kinder kümmern kann. Sie kann sich nicht mal selber retten. Sie ist wie ein schwer verwundetes Tier. Sie blickt auch nicht in Rheas Richtung nach rechts. Das wäre die viel leichtere Kopfbewegung im Vergleich zu dem Nach-hinten-Gucken zu den eigenen Kindern. Sie sitzt einfach nur da und versucht zu verstehen, was gerade passiert ist. Minutenlang.
    Jemand reißt ihre Tür auf. Ein anderer Lkw-Fahrer, der in den Unfall verwickelt ist. Nicht der Verursacher, der ist auf der Stelle tot. Er greift mit seinen starken Armen unter die Arme meiner Mutter.
    Er kann sie anders nicht tragen. Sie ist ihm zu schwer. Der Tank des unfallverursachenden Lkws ist ausgelaufen, Hunderte Liter Benzin glänzen jetzt in einer riesigen Pfütze unter all den zerstörten Autos. Sie haben angefangen zu brennen, weil es Kurzschlüsse gab aus den umgerissenen belgischen Straßenlaternen in der Mitte der Fahrbahn. Der Lkw-Fahrer schleift meine Mutter wie einen Sack durch die Flammen am Boden. Alles brennt. Überall Qualm und Gestank und Schreie und Tod.
    Dann legt er sie neben all die anderen Verletzten und Sterbenden.
    Sie sagt ganz langsam zu ihm:
    »Meine Kinder, meine Kinder sind noch in dem Auto.«
    Er läuft los, um sie zu holen.
    Dann fliegt vor ihm alles in die Luft. Eine riesige Explosion.
    Sie weiß, sie hat ihre Kinder verloren.
    Sie hat sie in Flammen aufgehen sehen. Mit ihren eigenen Augen.
    Und es explodiert noch einmal und noch einmal. Die einzelnen Benzintanks der Autos.
    Die Menschen, die sich noch retten konnten aus dem Reisebus, leisten meiner Mutter mit ihren Getränken Erste Hilfe. Sie schütten Cola, Fanta, Apfelschorle über die bis auf die Knochen verbrannten Füße. Damit tritt eine leichte Kühlung der Stellen ein. Die Ärzte sagen nachher im Krankenhaus, dass das sehr geholfen hat. Sonst wäre es noch

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