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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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hello und nicht hallo.
    »Hallo, ich bin’s.«
    Wir erkennen uns an der Stimme. Wir haben die gleiche Stimme. Wenn wir miteinander telefonieren, haben wir immer das Gefühl, mit uns selbst zu sprechen. Wir spiegeln uns. Sie hat mir in meiner Kindheit immer wieder folgenden Satz gesagt: »Du bist genauso wie ich. Das sagt jeder.«
    Wie soll man da jemand anders werden? Nur durchs Töten wohl.
    »Wie geht es dir, Mama? Ich war so froh, als Papa gesagt hat, dass du lebst. Das war das Wichtigste für mich.« Genau, scheiß doch auf alle anderen. Sie wäre wahrscheinlich lieber gestorben, wenn ihre Söhne dafür hätten überleben können. Aber Deals gibt es da nicht. Nur Zufall und Pech.
    »Ich weiß. Ja. Ich lebe.« Sie sagt es mit einer lustigen Stimme. Ist sie wahnsinnig geworden? Sie klingt sehr … nicht so wie sonst. Sie spricht mit einer anderen Stimme. Höher. Piepsig. Als wär das alles richtig komisch, was passiert ist.
    »Hast du Schmerzen?«
    »Nein. Die geben mir starke Sachen dagegen. Ich habe die Füße verbrannt, ich kann es sehen, aber nicht fühlen. Ein Wirbel in der Mitte des Rückens ist zerbrochen. Hö.«
    Oje, sie lacht. Sie ist verrückt geworden. Aber das ist wohl das Mindeste, was nach so was passieren darf. Meine eigene Mutter ist verrückt geworden. Oder machen die Medikamente das mit ihr? Hoffentlich! Schmerzmittel. Psychopharmaka?
    »Ich will hier nicht bleiben. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen mich nach Hause fahren. Das machen sie morgen, die sind hier sowieso überfüllt. Mit einem Liegendtransport komm ich nach Hause.«
    »Mama? Meinst du das ernst? Du kannst transportiert werden? Du bist morgen wieder zu Hause?«
    »Nein, doch nicht zu Hause, du Dummie.«
    Mein Gott, wie spricht die denn mit mir? Das hat die noch nie gesagt. Dieses Wort war, soweit ich weiß, nicht in ihrem Wortschatz. Entfremdung. Sprachlich auf jeden Fall. Normalerweise spricht sie auch kein Deutsch mit mir. Ich immer Deutsch mit ihr und sie Englisch zurück. Normalerweise. Ab jetzt gibt es kein Normal mehr. Seit heute nicht mehr.
    »Sie bringen mich in das Krankenhaus neben unserem Haus. Weißt du? Wo Lukas geboren wurde.«
    Der ist ja jetzt … Themawechsel.
    »Ja. Ach so, da. Dann fliegen wir morgen zurück nach Deutschland. Dann bin ich bei dir.«
    »Ihr müsst aber erst heiraten. Ist doch nicht schlimm, wenn wir alle nicht dabei sind.«
    »Ja, wir heiraten, und dann fliegen wir zu dir.«
    Mein Freund guckt mich entsetzt an. Ich gucke zurück, presse die Lippen zusammen, reiße auch die Augen auf und ziehe die Schultern hoch.
    Was soll ich dazu sagen? Ich will das jetzt beenden. Ich leg mich doch nicht mit einer Verrückten an. Heiraten. Klar.
    »Bis morgen, Mama. Ich komm zu dir. Ich kümmere mich morgen um dich.«
    »Viel Spaß morgen«, sagt sie mit zittrig abwesender Stimme. Um Jahre gealtert. Dafür aber auf Ecstasy.
    Aufgelegt.
    Meine Augen sind nur halb auf, ich stoße einen langen, tiefen Seufzer aus. Die ganze Anspannung der letzten Stunden und vor allem dieses Telefonats mit meiner durchgeknallten Mutter entweicht. Ich bin jetzt nicht mehr die Hauptmitleidsperson. Leider. Jetzt, wo meine Mutter das überlebt hat, müssen wir uns alle um sie kümmern. Ich kümmere mich nicht mehr um mich selber, sondern nur noch um meine Mutter. Im Kopf Kommando zurück und umschalten. Nicht mehr nehmen, sondern geben.
    Im Kopf dreht sich alles. Ich bin besoffen. Endlich. Ich will schlafen. Es steht noch ein Anruf aus. Die Rückflüge müssen auf morgen verschoben werden.
    Alles auf Englisch: »Guten Abend. Wir haben einen Notfall. Wir sind eine große Hochzeitsgesellschaft. Die Hochzeit wäre morgen gewesen. Es gab eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Drei Brüder sind tot. Wir müssen morgen zurückfliegen, Verletzte im Krankenhaus besuchen.«
    Sie erlauben uns zwei Notfallplätze in einem Flugzeug für morgen ganz früh.
    Die Familie meines Freundes muss einen Tag länger auf den Rückflug warten. Er unterrichtet sie darüber. Sie müssen die Zeit totschlagen in England auf dem Land, an der Ostküste. Sie haben nur feierliche, schicke Hochzeitsklamotten mit. Niemand hat an Trauerkleidung gedacht. Glaub ich aber auch nicht dran, an so einen Quatsch, wir sind ja keine Christen, wir sind Zufall.
    Damit müssen sie jetzt rumwandern oder was auch immer man macht, wenn eine Hochzeit platzt. Ich kann mich nicht weiter um sie kümmern. Die leben ja alle noch. Sie sind erwachsen und müssen gucken, wie sie klarkommen. Mehr

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