Schossgebete
Guten stehen will und die Bösen bekämpfen. Das sind für mich böse, verkommene Menschen. Alle. Denn sie alle profitieren von solchen täglichen Arbeitsmethoden. Kein Anstand, keine Moral. Kein Respekt vor trauernden Leuten. Kein Respekt vor Schmerz.
Ich sinne auf Rache. Dafür würde ich mich rächen. Ganz sicher. An den Menschen, die für diesen Anruf zuständig sind. An den Menschen, die direkt an einem solchen Anruf verdienen. Die damit reich geworden sind. Sich wahrscheinlich als gute Christen bezeichnen. Eine Grenze wurde überschritten. Und die haben da auch noch nicht lockergelassen. Der Eingriff in unser Leben, in unsere Trauer, für die Auflage der Zeitung, hatte dort erst begonnen. Ein Feind was born . Ein erbitterter Kämpfer. Eine Kämpferin. Track them down and smoke them out of their holes .
Ich drücke auf den leuchtenden roten Knopf, wie auf den Zünder einer Bombe.
Aufgelegt. Was jeder einzelne Mensch machen sollte, wo die anrufen, dieses Pack, beruflich, privat, dann würde sich das Problem schnell von alleine lösen. Schneiden, meiden. Das wäre eine friedliche Lösung. Dann gäbe es keine Geschichten über tote Kinder, Krebs, Alkoholismus, Scheidung, Insolvenz. Und es gibt nur was zu drucken, weil zu viele noch mit ihnen reden. Haltet alle dicht!
Legt auf. So, wie ich das gemacht habe. War nicht schwer. Mach den Mund auf, und du bist selber schuld. »Kein Kommentar« wird schon gedruckt. Damit hat man denen schon geholfen. Ganz einfach. Es ist ganz einfach, das Richtige zu tun, wenn man mal kurz nachdenkt. Jeder einzelne Leser, der diese Zeitung kauft, denen täglich die paar Cent gibt, ist an diesem Anruf bei mir an diesem Tag mit schuld. Die einzige Sprache, die die verstehen, sind rote Zahlen.
Ich erkläre meinem Freund, was uns da grade angetan wird. Dass sie es rausgefunden haben. Dass sie wohl meine Nummer irgendwie rausgefunden haben. Ich stehe nicht im Telefonbuch. Jemand, der mich persönlich kennt, muss sie weitergegeben haben für diesen Anruf. Natürlich werde ich nie rausfinden, wer das war. Damit brüstet man sich ja nicht. Jemanden verraten zu haben, jemanden ans Messer geliefert zu haben in einer Zeit, wo diese Person eher Frieden und Heilung brauchen würde. Ich verfluche auch diese Person. Der Unfall war, ohne dass ich jetzt viel wusste, natürlich aus Versehen. Unfälle sind immer aus Versehen, das sagt ja schon das Wort. Der Anruf war absichtlich. Das macht die Wut viel größer. Es beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit, gegen deren Anrufe. Ich rufe jeden einzelnen Verwandten an, sie wünschen mir herzliches Beileid. Was sagt man denn da zurück? Danke? Gleichfalls? Selber? Warum lernt man das nicht in der Schule. Wenn dir Verwandte sterben, sagen andere zu dir: »Herzliches Beileid«, darauf antwortest du dann: »Herzliches Beileid, ebenso.« Klingt steif. Ich entscheide mich für: »Selber.« Bisschen locker, nicht so schwer und steif.
Nachdem das erledigt ist, erkläre ich, dass ich grade belästigt wurde, von einem Menschen, der sich selber wahrscheinlich als Journalist bezeichnen würde, den wir in unserer Familie ab jetzt Drecksschreibtischtäter nennen. Ich erkläre, dass sie alle direkt auflegen sollen, kein einziges Wort sagen, nicht mal »kein Kommentar«, dass das uns nur schaden würde und denen in die Hände spielen, dass sie das ausschlachten wollen. Ich bringe alle auf Linie. Unsere Familie wird bedroht. Unser Frieden wird bedroht. Unsere Trauer wird bedroht.
Im Flugzeug ist endlich Ruhe. Ich halte die Hand meines Freundes und mache mir zum ersten Mal in meinem Leben große Sorgen, dass ich abstürzen könnte. Nicht mein Freund. Nur ich. Ich denke: Das wäre so schrecklich für meine Mutter. Die darf auf keinen Fall, bis sie stirbt, ein weiteres Kind verlieren. Drei reichen. Ich betrachte mich selber als Eigentum meiner Mutter. Ich muss auf mich aufpassen, dass ich nicht verloren gehe. Nicht wegen mir, meinem Freund oder unserem Leben. Das hoffentlich irgendwann wieder gut und einigermaßen normal wird. Sondern nur für meine Mutter. Meine Mutter darf nichts Schlimmes mehr erleben. Dafür muss ich sorgen.
Ich kralle mich in seine Hand, starre die ganze Zeit auf den Notausgang zwei Reihen vor uns und gehe im Kopf ganz genau durch, wie ich bei einer Landung auf Wasser über die beiden Reihen springe, um als Erste rauszukommen. Meinem Freund erzähle ich nichts von dem Plan. Wären wir zu zweit und hätten das vor, wäre es mühsamer, ich muss leicht
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