Schossgebete
bleiben, wendig, ich muss hier als Erste raus, damit meine Mutter nicht einen weiteren Bodycount erleben muss. Ich muss hier als Erste raus. Ich habe durch den Unfall gelernt, wie schnell das Leben vorbei sein kann, und ich möchte das verhindern. Ich möchte nicht für mich weiterleben. Ich lebe für meine Mutter.
Mir ist kalt, und ich bin nass geschwitzt, als wir landen. Ich war mir den ganzen Flug über sicher, dass wir abstürzen würden, ich habe mich innerlich schon von allen verabschiedet. Im Kopf habe ich mein Testament schon geschrieben, auch wenn ich fast nichts zu vererben habe. Immer noch mit den Hochzeitstaschen, gekauft für glückliche Tage, fahren wir zu dem Krankenhaus, das meine Mutter mir am Telefon genannt hat. Dort treffen wir auf drei Väter, die jeweils ihren einzigen Sohn verloren haben. Das heißt, es gibt väterlicherseits sechs trauernde Omas und Opas. Meine übrig gebliebene Schwester ist auch schon im Krankenhaus. Ich muss das immer wieder im Kopf durchgehen, wer jetzt eigentlich tot ist und wer lebt. Ich krieg es da nicht rein! Meine Schwester Emily lebt, sie ist vierzehn, und ich lebe. Wir sind nur noch zwei. Tot sind: Harry, 24. Lukas, 9. Und Paul, 6.
Wir umarmen uns, vor dem Krankenhaus. Ich lächle, weil ich mich so freue, sie zu sehen. Herzliches Beileid haben wir am Telefon schon gesagt. Alle sprechen noch ihr Bedauern aus, über unsere ausgefallene Hochzeit. Meine Schwester, die hier vor mir steht, war natürlich eingeladen. Sie wäre heute hingeflogen, nach England. Stimmt. Die Hochzeit wäre ja heute gewesen. Heute. Wenn nicht das Schlimmste unseres Lebens dazwischengekommen wäre. Ich hoffe doch, dass es das Schlimmste bleibt und es nicht noch schlimmer kommt. Ich gucke auf meine Armbanduhr. In vier Stunden wäre ich verheiratet gewesen. Ich sehe meinen Freund von der Seite an. Ich kann es nicht fassen, all die Organisation, alles umsonst. Ich liebe ihn. Werden wir es noch mal versuchen? Oder für immer unverheiratet bleiben? Es steigt eine Angst hoch in meiner Brust, die mir den Atem verschlägt bei der Vorstellung, eine weitere Hochzeit planen zu müssen und zu erleben, wie auf der Reise dahin wieder welche aus meiner Familie verunglücken. Und mit Reisen ist eine Hochzeit in unserer Familie immer verbunden. Die kommen von überallher. Oder wir feiern nur unter uns. Dann muss keiner kommen, und keiner muss sterben auf dem Weg zu uns.
Es ist Hochsommer. Wir setzen uns auf die Wiese vor der Klinik und warten auf unsere Mutter. Ich mache mir große Sorgen, dass sie schlimm zugerichtet aussehen könnte. Wie sieht man denn aus nach einer Massenkarambolage? Keine Ahnung. Ich geh mal lieber von dem Schlimmsten aus. Von den drei Vätern waren zwei gestern am geräumten Unfallort. Sie hatten viele neue Informationen, wie das alles überhaupt passieren konnte. Aus ihren Berichten, den Berichten der beiden Überlebenden, meiner Mutter und Rhea, und der Polizeiakte setzt sich folgendes Mosaikbild zusammen:
Sie fahren nach der Hochzeitskleidanprobe, die ich nie hätte machen dürfen, los. Ich bin nicht abergläubisch. Aber nach so einem Schicksalsschlag ist es viel Kopfarbeit, es nicht zu werden! Alleine wegen dem Herzeigen des Kleides denke ich, ich bin schuld an allem, was danach passiert ist. Sie fahren nur mit dem Auto, weil mein Kleid so groß ist. Ich bin eigentlich direkt schuld. Da braucht man nicht abergläubisch zu sein. Mein großer Bruder lässt seine Freundin, weil er ein Gentleman ist, vorne sitzen. Sie haben viel Spaß im Auto. Sie singen Lieder. Die Kinder fragen die Mutter ständig Dinge zur Hochzeit. Sie erzählt ihnen, dass sie alle das gleiche Hemd tragen werden, das wir gemeinsam ausgesucht haben. Es ist sehr heiß an dem Vormittag, und sie zieht wie immer beim Autofahren ihre Schuhe aus, hellbraune lederne Segelmokassins mit Bommeln dran, wie von Indianern gearbeitet. Ich habe sie vor der Abfahrt an ihren Füßen gesehen. Sie fährt die erlaubte Geschwindigkeit auf der Strecke in Belgien. 120 Stundenkilometer. Sie hat keinen Schluck getrunken. Und telefoniert nie während der Fahrt, wenn die Kinder mit im Auto sitzen. Das ist ganz wichtig für die Mutterschuldfrage nachher. Meine Mutter fährt an dem Tag der Tage, also gestern, mit den Jungs und der Freundin meines ältesten Bruders durch Belgien, auf dem Weg zum Eurotunnel. Es ist viel los auf der Autobahn, aber der Verkehr fließt. Auf der Gegenfahrbahn bildet sich ein Stau. Ein Lkw-Fahrer fährt auf der
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