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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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schlimmer gekommen für sie.
    Für mich, in meinem Kopf, ist das Schlimmste: dass wir alle nicht wissen, ob meine Brüder, als sie in Flammen aufgegangen sind, noch gelebt haben oder ob sie von dem Aufprall schon tot waren. Das klingt jetzt makaber, aber so ist das nun mal, ich hoffe seit acht Jahren inständig, dass der Aufprall so stark war, dass alle ihre drei schlanken Genicke gebrochen sind und sie nicht bei lebendigem Leibe gespürt haben, dass sie verbrennen. Das verfolgt mich täglich. Tagsüber und nachts in meinen Träumen. Ich werde es nie rausfinden, es wird nie eine Antwort geben. Weil sich die Mutter nicht nach ihren Kindern umgedreht hat. Frau Drescher sagt, es könnte sogar sein, dass sie es doch getan hat und uns alle anlügt, damit sie nicht beschreiben muss, was sie da gesehen hat. Oder es war so schlimm, was sie gesehen hat, dass ihr Gehirn es aus Liebe zu ihr gelöscht hat, weil sie sonst noch verrückter geworden wäre. Ein Gehirn weiß, was sein Träger aushalten kann und was nicht.
    Wir sitzen in der Sonne und warten auf die Mutter. Die Horrormutter. Ich habe einen Horror davor, sie zu sehen. Ich habe Angst, dass meine hübsche Mutter nicht mehr hübsch ist. Sie ist sonst immer sehr gepflegt. Jetzt gleich bestimmt aber nicht. Mach dir keine Hoffnungen, Elizabeth! Sie wird bestimmt schrecklich aussehen, und du darfst es sie nicht spüren lassen. Genauso machen wir’s!
    Eine Krankenschwester kommt und bittet uns rein. Die Mutter ist angekommen. Sie hat ein Einzelzimmer bekommen, bei der Schwere des Falls. Wusste ich doch. Weil sie drei Kinder verloren hat, muss sie sich nicht das Zimmer teilen mit irgendeinem Honk. Sehr gut. Danke, liebes Krankenhaus. Die Krankenschwester erzählt uns, dass meine Mutter schon einige Zeit hier ist und untersucht wurde. Gleich würde der Arzt mit mir sprechen wollen. Mit mir? Warum? O Gott, was will der denn von mir? Wir werden sehen.
    Elizabeth, du musst tapfer sein. Da kommt jetzt so einiges auf dich zu, wo du keine Ahnung hast, wie das geht. Mein Wissen über solche Dinge speist sich nur aus Filmen, die Mutter mir gezeigt hat. Vielleicht deswegen? Damit ich das hier alles durchstehe und ihr helfen kann in dieser Situation? Kann sein. Der ist alles Perfide zuzutrauen. Die scheint immer einen Masterplan zu haben, zwar einen bösen, aber immerhin! Die Krankenschwester flüstert uns vor der Tür mit der 322 drauf noch zu, dass wir uns nicht wundern sollen, wenn sie sich etwas komisch benimmt. Wie? Noch komischer als sonst? Sie hätten sie unter starke Psychopharmaka gesetzt, damit sie das mit dem Verlust ihrer Söhne noch nicht kapiert. Sie hat das noch nicht verstanden. Die Psychopharmaka sorgen dafür, dass alle Rollos im Kopf runtergehen, und die schmerzhafte Einsicht über das Geschehen sickert erst Tage später langsam ins Bewusstsein. Sie weiß es noch nicht?
    Aha. Gut zu wissen. Mann, ist das alles verrückt. Es gibt Medikamente, die machen, dass meine Brüder noch leben? Warum krieg ich die nicht, warum nur meine Mutter? Ich will da nicht rein. Ich will mich nicht befassen mit einer verbrannten Mutter. Das ist alles zu viel für mich.
    Keiner sagt: »Herein.« Sie liegt da, ganz klein in dem großen Bett, und schläft. Gut. Dann kann ich mich erst mal an den Anblick gewöhnen, ohne dass sie, gespiegelt durch mein erschrockenes Gesicht, merkt, wie scheiße sie aussieht. Das ganze Gesicht ist übersät mit blutigen Kratzern. Aha, von der Windschutzscheibe bestimmt. Alle Kratzer zeigen in die gleiche Richtung. Als hätte Freddy von Nightmare on Elmstreet mal kurz Guten Tag gesagt. Sie hat ein geschwollenes blaues Auge und eine genähte Platzwunde an der Stirn. Bestimmt der Aufprall aufs Lenkrad oder Armaturenbrett. Und das Schlimmste, da war ich gar nicht drauf gefasst, ihre ganzen schönen blonden langen Haare sind zu kurzen, dicken, verkokelten Dreadlocks geschmort. Die Hitze! Daran hatte ich nicht gedacht. Haare schmilzen offensichtlich, wie man sich das eher bei einer Plastikperücke vorstellen würde. Das muss alles abgeschoren werden, das kommt doch nie wieder in Ordnung.
    Sie öffnet die Augen und lächelt uns an. Ihr Blick sieht gehetzt aus. Sie hat die Augen weiter auf als sonst. Wie ein gehetztes Tier. Ja. Ich sehe ihr an, dass ihr Unterbewusstes längst weiß, was passiert ist.
    Sie sagt: »Was soll ich sagen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was guckt ihr denn alle so. Mann, hört auf damit. Hast du geheiratet, Kind?«
    Sie lächelt, wie eine

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