Schossgebete
Verrückte.
Alle im Zimmer erstarren merklich bei der Frage. Meine übrig gebliebene Schwester und ich, das sind wir nämlich: Übriggebliebene. Wir gehen an ihr Bett und legen ganz vorsichtig, um ihr nicht wehzutun, unsere Köpfe auf ihre Brust.
»Ja, Mama, wir haben geheiratet.«
Was soll’s? Ich denke, die ist auf Psychopharmaka, da kann ich doch auch antworten, was die hören will. Ist doch egal. Ich sag der einfach nachher, das hast du wegen der Medikamente falsch verstanden.
»Ich freu mich für dich.« Sie guckt meinen Freund an. »Euch. Ich freu mich für euch. Jetzt müsst ihr schnell drei Kinder bekommen.«
Aaah. Hilfe. Ich denk, die weiß das noch nicht oder nicht mehr, wegen der Medikamente. Die scheinen ja nicht gerade perfekt zu wirken.
Ich streichele ihre Hand. Die hat auch die Kratzer, wie im Gesicht, von der Windschutzscheibe. Ihr ganzer Körper scheint geschunden.
Ich gucke ihr wieder ins Gesicht. Ihre Augen sind zu. Sie atmet unruhig.
Wir schleichen alle wieder raus aus diesem Horrorzimmer. Weil wir wirklich auf Zehenspitzen in Zeitlupe raustrippeln, müssen wir alle kichern. Wir drehen uns schnell um, ob sie das geweckt hat. Nein. Weiter. Raus hier.
Im Flur treffen wir den behandelnden Arzt. Er guckt mich die ganze Zeit an, während er spricht. Ich bin die Ältere von uns beiden Kindern. Mit den Männern ist sie nicht mehr zusammen. Mit keinem von ihnen. Das heißt ja wohl, ich bin die nächste Verwandte und Ansprechpartnerin für jede Scheiße, die noch kommt.
»Frau Kiehl, wir haben Ihrer Mutter ein Einzelzimmer gegeben, weil das ein böses Erwachen geben wird, wenn wir langsam die Psychopharmaka reduzieren und ihr Schritt für Schritt bewusst werden wird, dass sie drei Kinder verloren hat. Sie fuhr ja das Auto. Auch wenn sie juristisch keine Schuld trifft, sie wird sich Vorwürfe machen. Das kann so schlimm werden, dass sie sich umbringen will. Bitte bleiben Sie Tag und Nacht bei ihr für die nächsten Wochen, und passen Sie auf, dass sie sich nicht suizidiert.«
Alles klar, ich habe eine neue Aufgabe. Die Heldenaufgabe: Mutter am Selbstmord hindern. Mach ich, kein Problem, das kann ich.
»Wir stellen noch ein Bett ins Zimmer, in dem Sie dann schlafen können. Das zur Psyche. Jetzt zum Körperlichen. Sie hat die Füße extrem stark verbrannt. Die müssen jeden zweiten Tag gebürstet werden, damit sich während des Heilungsprozesses keine Narbengeschwülste bilden. Die würden später die Bewegungsmöglichkeiten beeinträchtigen. Sie wird sehr große Schmerzen aushalten müssen, wenn wir mit einer groben Bürste über das offene Fleisch bürsten, dafür versetzen wir sie alle zwei Tage in Vollnarkose. Danach wird es ihr sehr schlecht gehen. Wenn die Narkose nachlässt, werden die Schmerzen nicht hundertprozentig unterdrückt werden können. Das wird sehr unangenehm für Ihre Mutter werden, und es wäre gut, wenn Sie in diesen Momenten bei ihr wären. Sie darf ganz lange nicht aufstehen, natürlich einmal wegen der Füße, aber auch wegen des gebrochenen Wirbels. Der muss wieder zusammenwachsen, und deswegen müssen wir Ihre Mutter ruhig stellen. Wir vermuten, dass da von der hinteren Sitzbank des Wagens eines der Kinder mit dem Kopf durch die Rückenlehne gegen den Wirbelknochen Ihrer Mutter geprallt ist und dadurch die Fraktur herbeigeführt hat.«
Anhaltspunkt. Das heißt, es könnte sein, dass wenigstens eines der Kinder, nämlich vermutlich das, das hinter Mutter saß, bei dem Feuer schon tot war.
Oder wenigstens bewusstlos.
»So viel erst mal von unserer Seite. Wenn Sie Fragen haben, gerne.«
Alle gucken sich gegenseitig an und schütteln die Köpfe.
Danke. Bis später.
Ich möchte allein sein. Ich sage den Verwandten, mein Freund gehört seit gestern auch dazu, dass ich die zwei Kilometer schnell alleine nach Hause gehe, um ein paar Sachen zu packen, für die Übernachtung. Sie sollen hierbleiben und auf sie aufpassen. Ich gehe los. Raus, an die frische Luft. Ich marschiere den Bürgersteig entlang, als wär ich auf der Flucht. Dieses Gefühl wird bei mir nie wieder aufhören. Mache alles schnell, damit ich so wenig schmerzhafte Gedanken wie möglich produziere. Ich ziehe jetzt in ein Krankenhaus ein. Habe Angst vor der Nacht mit Mutter. Ich will nicht dabei sein, wenn ihre Erkenntnis einsetzt.
Ich stelle mir vor, dass sie die Augen aufreißt und schreit, sich an mir festklammert und weint und bettelt, dass das nicht sein darf, dass sie zurückkommen sollen, dass wir
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