Schossgebete
das Leben etwas beschwerlicher, aber sie sind fleißig und haben immer vorgesorgt. Der Schädelknochen von dem einen, der hinter Mutter saß, wieso weiß ich eigentlich nicht, wer das war? Das fehlt in meinem Unfallmosaik, diese Information. Ich kann auch niemanden mehr fragen von denen, die dabei waren. Zu den beiden Überlebenden, Mutter und Rhea, habe ich ja den Kontakt abgebrochen. Jedenfalls ist der Schädel etwas schief langsam wieder zusammengewachsen. Durch seine langen, dreckigen, verfilzten Haare spürt mein Bruder noch den Knochenhubbel von damals. Er ist froh, dass diese Kopfschmerzen nach ein paar Jahren aufgehört haben.
Ja, so ist das da in dem belgischen Wald. Und niemand kann mir das Gegenteil beweisen. Weil mir niemand die toten Körper zeigen kann. Weil nichts mehr da ist zum Beerdigen.
Oder fällt dann eine Beerdigung aus, wenn nichts mehr übrig geblieben ist nach dem Flammeninferno? Im Prinzip haben wir die Feuerbestattung ja schon gemacht, auf der Autobahn. Das Krematorium haben wir uns schon mal gespart. Nur hat keiner die Asche eingesammelt. Oder? Ist die dann weggeweht? Wohin? Oder festgeklebt, am Reifen eines anderen Fahrzeugs, an anderen Toten, in offenen Wunden? In den Haaren der Feuerwehrleute? Haben die meine Brüder nach dem Einsatz mit Männershampoo in den Abfluss gespült? Sind die zusammengekehrt worden, von dem Aufräumer an der Unfallstelle? Kurz bevor die Vollsperrung wieder aufgelöst wurde? Zusammen mit den in der Sonne glitzernden Scherben der kaputten Windschutzscheiben, verstreuten Kleidungsstücken, Verbänden und Pflastern der Ersten Hilfe, abgerissenen Stoßstangen, vergessenen Kinderstofftieren? Alles auf einen großen Haufen auf den Standstreifen. Und weiter geht die lustige Fahrt für die, die im Stau gestanden haben.
Seit dem Unfall fahre nur noch ich. Das heißt, ich lasse mich von niemandem mehr fahren. Ich habe das Gefühl, alle anderen fahren schlechter. Ich bin seitdem kein nervöser Fahrer geworden. Nicht schreckhaft oder angespannt. Nur sehr vorsichtig. Ich fahre vorausschauend und defensiv. Ich versuche alle Wahnsinnigkeiten aller anderen immer mitzudenken. Es liegt in meiner Hand, alle Insassen meines Autos heil ans Ziel zu bringen. Das, was meiner Mutter nicht geglückt ist. Ist meine Aufgabe. Wenn ich Beifahrerin bin, halte ich es nicht lange aus. Bei jeder Reise in den Urlaub, egal, wie viele Stunden, fahre ich die ganze Strecke immer ganz alleine. Und wer das nicht will, kann nicht mit mir fahren. Ich rede mir ein, dass ich besser aufpasse als alle anderen, weil ich ganz genau weiß, wie schnell es gehen kann.
Ich zähle alle toten Tiere auf dem Weg. Sie sind wie meine Brüder: unschuldig, klein, natürlich. Jeder, der Auto fährt, nimmt billigend in Kauf, Menschen zu töten. Ich sehe auf der Autobahn seitdem jede Spur eines Unfalls. Ich werde von Unfällen verfolgt. Nicht nur von unserem, sondern von allen, die ich sehe. Die neonbesprühten Stellen auf der Autobahn, die Kratzer und tiefen Beulen an den Leitplanken. Die langen Bremsspuren, die ins Feld gehen oder die Erdaufschüttung hoch. Und vor allem: Brandspuren. Schwarze Stellen von brennenden Fahrzeugen auf dem Asphalt. Ich sehe jede einzelne und versuche mir vorzustellen, wer denn da schon wieder gestorben ist, ob dieser Jemand Kinder hinterlassen hat, was schlimmer ist, oder ob er zum Glück keine Kinder hatte. Lebensgesetze dürfen nicht gebrochen werden. Ein Lebensgesetz ist: Die Eltern sterben immer vor den Kindern. Dann ist alles richtig. Oder jeder stirbt einen natürlichen Tod. Heißt: einschlafen, Herzstillstand im hohen Alter. Von mir aus auch Krebs im hohen Alter, Alzheimer, Parkinson, an irgendwas muss man ja sterben! So muss das sein. Aber doch nicht die Kinder vor den Eltern und dann auch noch durch einen Unfall, durch eine Katastrophe! Plötzlich aus dem Leben gerissen. Ohne Abschied. Das ist schon ganz schön brutal. Auf einer durchschnittlichen Autoreise auf der Autobahn zähle ich: vier tote Schleiereulen, zwei tote Igel, einen Fuchs und zwei Katzen. Die Haustiere sind mir eher egal. Die gehören ja jemandem. Die werden gefüttert. Die stehen nicht für meine Brüder. Aber die toten wilden Waldtiere reißen mir das Herz raus, wenn sie tot daliegen. Sie sind der Beweis für mich, dass es falsch ist, Auto zu fahren. Insgesamt falsch! Dass wir mal Autobahnen durch den Wald gebaut haben, um schneller irgendwo zu sein, kommt mir wie ein massiver Fehler vor. Die Tiere waren zuerst
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