Schossgebete
gelb an und ist kalt wie ein totes Hühnchen aus dem Kühlschrank. Das hätte ich gerne. So, ohne Körper zum Abschiednehmen, spielt mein Hirn mir Streiche. Ich will das Unausweichliche nicht akzeptieren und trickse mich aus: Wenn keine Körper gefunden wurden, könnten sie doch noch leben. Vielleicht haben sie sich gerettet. Sind vor der großen Explosion aus dem Auto rausgekommen und in den Wald gelaufen. Was weiß ich. Kann doch sein! Rhea hat es doch auch geschafft, die Tür aufzumachen und sich rauszurobben. Das haben die auch gemacht, kurz nachdem meine Mutter draußen war.
Sie leben jetzt im Wald von Belgien, bei all den Tieren, die noch nicht von uns brutalen Fortschrittswirtschaftswachstumsautofahrern überfahren wurden. Der Unfall hat sie natürlich sehr mitgenommen, sie sind seitdem verrückt, können sich an nichts erinnern, was den Unfall angeht, auch nicht an ihr früheres Leben in der Familie. Mein ältester Bruder ist der Anführer, er kümmert sich um die Kleineren. Das Kind, das hinter meiner Mutter saß, ich weiß ja nicht, welches es war, hat von dem größeren Bruder aus Ästen und Reisig etwas gebastelt bekommen, das er immer tagsüber feste um den Kopf tragen muss, da er durch den Aufprall gegen den Sitz meiner Mutter und ihren harten Wirbel den Schädel gebrochen hat. Das wächst aber durch die nützliche Kopfschiene meines Bruders langsam wieder zusammen. Der Kleine hat oft starke Kopfschmerzen deshalb. Die drei finden aber eine Borke von einem bestimmten Baum; wenn er darauf kaut, lindert das seine Schmerzen. Sie ernähren sich von Waldbeeren und jungen Trieben, wie Indianer, im Einklang mit der Natur. Sie sind nackt und schmutzig und haben lange Haare. Alle drei haben seit dem Unfall ihre Sprache verloren und verständigen sich nur durch Blicke. Sie verstehen sich eigentlich blind, denn sie sind Überlebende. Was braucht man da noch viel zu kommunizieren? Sie haben einen sehr langen Ast gegen einen Baum gelehnt, sie haben kürzere Stöcke gesammelt, Hunderte davon, und sie gegen den langen Ast gelehnt. So entstand langsam ein richtig großes Holzzelt für sie zum Schlafen. Alle Lücken zwischen den kürzeren Stöcken stopfen sie mit weichem Moos und Blättern, bis es wasserdicht und warm ist in ihrer Höhle. Sie polstern sich den Boden mit getrocknetem Moos aus und haben jetzt alles, was man zum Leben braucht. Sie trinken von einem kleinen Bach im Wald, sie sammeln viele Beeren von einer bestimmten Sorte. Einer isst ein paar, und die anderen beiden gucken zu, ob sich die Gesichtsfarbe verändert, ob die Haut Reaktionen zeigt, die Pupillen. Wenn ihm übel wird, wissen sie, dass die Beere für Menschen giftig ist, und helfen ihm zu erbrechen, mit einem abgerundeten Stock, den sie extra für diesen Zweck im Wald gesucht haben.
Wenn sie auf diese Weise Beeren als genießbar erkannt haben in den verschiedenen Jahreszeiten, sammeln sie davon viel mehr, als sie essen können, und trocknen sie in ihrer Schlafstätte, als Vorrat für den kalten Winter. Einer muss immer bei den Beeren bleiben, weil die Vögel und Eichhörnchen bei der Futtersuche direkte Konkurrenten sind. Bei jeder Unaufmerksamkeit meiner Brüder werden ihnen Lebensmittel aus ihrer Höhle stibitzt. Die Tiere im Wald sind auch so schlau, dass sie wissen, dass Klauen weniger Energie verbrennt als Selbersammeln.
Sie haben auch eine Währung eingeführt zwischen den dreien. Wenn der eine mal was Faszinierendes findet und der andere ihm das abkaufen will, diese Idee hatte natürlich mein geldbegeisterter großer Bruder, dann muss man ja was haben, um einen Gegenwert zu schaffen. Also haben sie einfach eine Währung erfunden. Sie schleichen nachts in die Nähe der Autobahn und suchen Scherben von Flaschen, die die Menschheit dort hingeworfen hat. Meine Brüder sammeln am liebsten die blauen Scherben. Die sind die wertvollsten in dem Land, in dem sie wohnen. Danach kommt jeder Grünton, dann braun, und die wertlosesten sind die durchsichtigen Scherben. Sie alle reiben sie mit der scharfen Kante so lange an einem Stein, bis man sie gut in der Hand halten kann, bis alle Ecken abgeschliffen sind. Das Kratzen der Scherben auf dem Stein ist ein nur schwer erträgliches Geräusch, sie lachen aus Unbehagen darüber, sie summen laut, sie wissen nicht, welches Lied sie summen, aber es ist »Lucky Man« von The Verve.
Mit den abgerundeten Scherben bezahlen sie sich gegenseitig und horten ihre Schätze. So leben sie tagein, tagaus, im Winter ist
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