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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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die Zeit zurückdrehen sollen, dass sie ein paar Minuten früher losfahren und die Stelle unverletzt passieren, dass mein Kleid etwas kleiner und bescheidener ausfällt und in meinen Koffer passt, damit alle zusammen fliegen können. In einem sicheren Flugzeug. Sie krallt sich an mir fest und reißt mich mit runter in den Wahnsinn.
    Ich gehe aus Liebe zu ihr mit, runter, runter, raus aus dem Leben. In die Dunkelheit. Hoffentlich passiert das tagsüber, wenn die anderen auch da sind. Ich grusele mich vor ihr und der noch ausstehenden Erkenntnis, dass drei ihrer Kinder tot sind. Ich spüre, dass ich Hilfe brauche. Ich stehe das alles nicht alleine durch. Warum bekommt sie Medikamente und ich nicht? Ich wäre auch gern ruhig gestellt. Ich muss mir einen Therapeuten suchen. Ich löse mich auf. Ich werde mich jetzt wochenlang um meine selbstmordgefährdete Mutter kümmern und dabei auf der Strecke bleiben. Sie hat das größte Leid erlebt. Von uns allen. Ich habe nur meine Brüder verloren. Was ist schlimmer? Na, wenn man seine Kinder verliert natürlich. Die Männer haben jeweils nur einen Sohn verloren. Was ist schlimmer? Na, wenn man drei Kinder verloren hat. Wir waren alle nicht dabei. Was ist schlimmer? Na, wenn man dabei war. Deswegen konzentriert sich unsere Hilfe ab jetzt komplett auf die Mutter, die drei Kinder verloren hat. Dagegen können wir alle nicht anstinken. Und darum kriegen wir auch keine Medikamente. Ganz einfach.
    Ich will nicht darüber reden mit meinem Freund, nicht mit den ganzen Vätern, nicht mit meinem Vater, sondern mit einem Profi. Jemandem, der diese Scheiße, durch die ich muss, studiert hat. Jemandem, der mir hilft, das durchzustehen. Damit ich später ein erträglicher Mensch sein werde. Damit ich das hier überlebe. Bin mit den Gedanken und dem Stechschritt so schnell zu Hause wie noch nie. Ich wohne mit meinem Freund in der Nähe meiner Mutter. Zum Glück musste ich noch nicht in Mutters Haus. Da sind jetzt drei Kinderzimmer leer. Für immer. Da müssen dann wohl alle Verwandten schlafen, die jetzt aus England eintrudeln, um uns zu unterstützen. Um Mutter zu unterstützen, nicht uns! Die Hochzeit, nur umgekehrt. Eigentlich wären wir alle da, zu einem freudigen Ereignis, jetzt sind die alle hier, zu einem traurigen Ereignis. Hochzeit, Beerdigung.
    Meine Mutter lässt die Zimmer bestimmt genau so, wie meine Brüder sie verlassen haben. Wie die das im Film immer machen. Und dann sitzt die Mutter täglich auf einem der Betten rum, hält einen Baseballschläger in der Hand und weint. Nur dass keiner meiner Brüder Baseball gespielt hat und auch keinen Baseballschläger besitzt. Wir sind nämlich in der ganzen Familie gegen alles Amerikanische. Wir sind Antiamerikaner. Wir sind gegen Krieg, Todesstrafe, Fettleibigkeit, Monsanto, Exxon. In unserer Familie steht Amerika nur für Schlechtes. Ja, ja, was einem da so durch den Kopf geht. Eine Hochzeit und drei Todesfälle. Und ich mittendrin. I cannot fucking believe it!
    Ich renne in unsere Wohnung rein, packe das Nötigste. Der Körper funktioniert erstaunlich gut dafür, was passiert ist. Alles tut so, als würde es normal weitergehen. Ich funktioniere, mein Körper arbeitet, befolgt Befehle. Ja, mehr aber auch nicht. Das Gehirn hinkt doch sehr hinterher, das ist noch irgendwo in England. Oder ist es in Belgien, auf der Autobahn, geblieben?
    Ich denke alles, was ich über den Unfall weiß, bis zum Erbrechen immer wieder durch. Bis ich das Gefühl habe, dass ich dabei war, aber nichts machen konnte. Ich konnte nicht helfen. Meinen kleinen Brüdern! Niemanden retten. Ich gucke nur zu und fühle schmerzhaft mit, wie das so ist, wenn man bei lebendigem Leib verbrennen muss, weil man nicht da rausgezogen wurde. Weil Menschen an der Ausfahrt rausfahren, weil sie keinen Bock auf Stau haben. Weil sie nicht zu spät kommen wollen zu ihrem unwichtigen Termin. Lassen sie Kinder in brennenden Büchsen sterben.
    Wer weiß, wenn wir mehr Helfer gehabt hätten, dann wären sie da rausgezogen worden! Tot oder lebendig.
    Wenigstens hätten wir dann Körper gehabt zum Beerdigen. Was beerdigen wir jetzt eigentlich? Da hab ich ja noch gar nicht drüber nachgedacht. Ich beneide jeden, der jemanden verliert, wenigstens aber einen toten Körper hat, zum Anfassen. Zum besseren Begreifen. Damit das lahme Gehirn verstehen kann, diese Person ist jetzt tot. Das Leben kommt nicht wieder in diesen toten Körper zurück. Niemals. Guck, fass ihn an. Er ist steif und läuft

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