Schossgebete
da. Die laufen im Wald rum und wissen nicht, wie sie lebend über die Straße kommen sollen. Sechs Spuren mit rasend schnellen Autos. Manche fahren über zweihundert. Da hoffe ich immer, dass sie sich, ohne anderen zu schaden, bald selber um den Brückenpfeiler wickeln, bevor sie ein großes Loch in eine Familie reißen, weil sie so wichtig sind und es so eilig haben. Geschwindigkeit tötet. Menschen und Tiere. Mir werden Menschen auch immer egaler. Die meisten von denen haben das Schlimmste verdient. Aber die Tiere tun mir doch sehr leid. Die haben in der Evolution noch nicht mitbekommen, dass es solche viel zu schnellen Autos gibt. Dann will ich lieber sterben, als unter diesen menschen- und tiertötenden Rasern zu leben. Eine kleine Unaufmerksamkeit, ein Konzentrationsfehler, und bumm, schon ist sie da, die Katastrophe, die eine Familie zerstört! Ich marschiere schnellen Schrittes wieder zurück zu meiner verwundeten Mutter ins Krankenhaus, ich habe einen Auftrag: kümmern.
Ich komme im Krankenzimmer meiner Mutter an, bin völlig aus der Puste, der Marschschritt in der Sommersonne war vielleicht etwas übertrieben. Seit diesem Tag hetze ich nur noch. Ruhe tut weh. Besinnung tut weh. Flüchten macht alles erträglicher. Später beim Yoga würde ich immer alle Übungen gerne mit mitmachen, wenn das Herz klopft und man mehr Körper als Geist wird, das fühlt sich gut an. Wenn dann aber am Ende entspannt werden soll, stehe ich immer auf und gehe raus. Das kann die Lehrerin nicht von mir verlangen, dass ich mich da hinlege, als wär nie was Schlimmes passiert. Immer der Unfall. Er verfolgt mich noch acht Jahre danach, sodass ich Ruhe nicht aushalten kann, weil dann die Bilder und meine Brüder zurück in meinen Kopf kommen, die wahrscheinlich höllische Schmerzen aushalten mussten, bevor sie starben. Dann kommt das schreckliche schlechte Gewissen in meinen Kopf gekrochen, dass ich lebe und sie nicht.
Mutter schläft. Ich setze mich auf das Bett, in dem ich die nächsten Wochen die Nächte verbringen soll. Wie eine alte Frau halte ich die Tasche schützend auf meinem Schoß. Ich verstecke mich hinter der Tasche, ich habe Angst vor meiner Mutter, ich habe Angst vor meinen toten Brüdern, vor dem schlechten Gewissen, dass ich lebe.
Wenn ich mich neu verliebe, habe ich ein schlechtes Gewissen, dass sie das nicht mehr können. Wenn ich einen Erfolg feiere bei der Arbeit, werde ich zerfressen von schlechtem Gewissen. Sie hatten doch noch das ganze Leben vor sich, hätten bestimmt auch viele Erfolge gefeiert. Können sie aber nicht mehr. Ich schon. Und daran ersticke ich! Wenn ich viel Geld verdiene, kann ich es nur halbherzig feiern, weil sie niemals eigenes Geld verdient haben. Und mein Bruder, der große, der mir am nächsten war, hat Geld so geliebt. Er hat doch auch seinen reichen Vater vermisst, weil meine Mutter ihn, warum auch immer, verlassen hat für den nächsten Mann. Mein Bruder hat das Geld so wie ich geliebt, weil es Vater bedeutete für uns.
Die stärkste Erinnerung, die ich an meinen größten Bruder habe, ist, als er und meine Mutter zusammen zur Bank fuhren, um eine Summe abzuheben, die meine Mutter für den Kauf eines gebrauchten Wagens brauchte. Sie wollten das gebrauchte Auto in Cash zahlen. Mein Bruder bat unsere Mutter, das Geld aus dem Umschlag nehmen zu dürfen. Fünftausend Mark. Sie erlaubte es lachend. Er breitete es wie einen Fächer aus und wedelte sich damit Luft zu. Er bestand darauf, dass meine Mutter das fotografieren sollte. Und die Bilder hängte er sich nachher über sein Bett. Er selber mit einem Haufen Bargeld in der Hand, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Wir zogen ihn oft damit auf. Er stand aber zu seiner Liebe zum Geld. Er war der HipHopper in unserer Familie. Wahrscheinlich bin ich genauso besessen von Geld, kann es nur besser verstecken als er. Vielleicht hab ich ihn deswegen ständig damit aufgezogen, weil ich es bei mir auch nicht nur gut fand. Es gilt ja in unserer Gesellschaft als verwerflich, sich für Geld zu interessieren oder Geld haben zu wollen. Dabei ist das ganze Scheißsystem, in dem wir leben, darauf aufgebaut.
Wenn wir mal unseren Vater sehen durften und er uns ausführte in ein Restaurant, das uns damals sehr teuer vorkam, und er nach dem Essen die Rechnung bestellte, machte mein Bruder, mein toter Bruder, so lange einen Aufstand, bis er einen Blick auf die Rechnung werfen durfte. Mein Vater hat vergeblich versucht, ihm beizubringen, dass das schlechtes
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