Schossgebete
wollen. Und sie haben plastikbeutelweise Bier dabei. Von der Tanke um die Ecke. Schön. Betäubung, endlich. Wir tanzen mit Pizza und Bier auf den Gräbern meiner Brüder. Endlich essen. Ich habe Hunger! Ja. Jetzt merk ich das. Ich bin auch noch da, wenigstens ein bisschen, ich spüre Hunger. Die Verwandten setzen sich auf mein Bett und auf den Boden. Es geht auch ganz schön lustig zu mit den allen. Weil wir alle zusammen sind und uns so selten sehen und heute doch der Tag der Hochzeit gewesen wäre, kommt mir das fast vor wie ein Hochzeitsfest, nur Planänderung: im Krankenhaus. Als wäre uns nur eine Lappalie passiert und wir hätten hier im Krankenhaus die Hochzeit nachgeholt. Wir lachen und singen. Da laufen wir noch, wie Hühner, denen man den Kopf abgehackt hat, ein paar Meter weiter, ohne Kopf, bis der Unfall im Kopf bei jedem als Gewissheit angekommen ist.
Der Unfall hat meiner Familie den letzten Rest gegeben. Die Familie war vorher schon krank, kaputt und kaum zu retten, der Unfall war aber der Todesstoß. Keiner hat danach Kontakt zu keinem. Ja, so ist Psychologie. Verrückt!
Die Mutter kommt zurück, wir sind schon angetrunken von dem ganzen Dosenbier. Sie schläft erst, aber als sie langsam wach wird und die Betäubung nachlässt, vergeht der Spaß ganz schnell. Sie hat so höllische Schmerzen. Sie schreit, sie zittert, sie sagt, ihr sei unerträglich kalt. Wir laufen alle durcheinander, wir holen vier weitere Daunendecken, es hilft nichts. Ihr ist innerlich kalt. Wir können von außen nichts machen. Sie sagt immer und immer wieder nur diesen Satz: »Meine Füße, meine Füße, die sollen die in Ruhe lassen.« Das war, was der Arzt meinte: Das sind solche Schmerzen, die kriegt man mit Schmerzmitteln nicht hundertprozentig unterdrückt. Und da muss die jetzt für wer weiß wie lange alle zwei Tage durch. Ich denke, sie dreht durch und ich auch, ich bin doch wie sie. Wir sind doch gleich. Dein Schmerz ist mein Schmerz. Mutter. Ich muss mich um dich kümmern. Kümmern. Kümmern. Dann geh ich vielleicht in dir auf. Bin nicht mehr gerne ich. Will nicht alleine ich sein. Will in dir sein, in dir aufgehen. Dann tut das alles vielleicht weniger weh, dir und mir!
Nach einer elend langen Stunde von Schmerzensschreien ist es endlich wieder ruhig. Sie ist eingeschlafen, vor Erschöpfung. Alle Verwandten sind vor Entsetzen nüchtern und müssen sich wieder auf Pegel trinken.
Der Tag geht langsam zu Ende. Der erste Tag im neuen Leben. Ein Leben voller Angst und schlechtem Gewissen. Das neue Leben mit der unumstößlichen Gewissheit, dass der Tod uns bald alle holt. Jeden Einzelnen von uns, und dass man sich dem mit viel Geschick entgegenstellen muss, um zu überleben. Aber will ich überhaupt überleben? Das Leben ist eine Quälerei, es hängt immer am seidenen Faden. Oben hält sich eine Seidenraupe an der Decke fest, und viele Meter darunter hänge ich, eingewickelt in dem Faden, der aus ihrem Arsch kommt. So stellt sich mein Leben dar seit dem Unfall. Seit acht Jahren. In den acht Jahren bin ich mit Sicherheit um dreißig Jahre gealtert.
Die Verwandten gehen in das Haus, in dem es jetzt drei leere Kinderzimmer gibt, und saufen bestimmt die ganze Nacht durch, wie ich die kenne. Und sie lassen mich mit diesem Etwas, das früher mal meine Mutter war, alleine für die Nacht im Krankenhaus. Es ist wie in einem Horrorfilm. Wir sind eben auch stark vorbelastet durch die Filmbesessenheit meiner Mutter.
Ich kann lange nicht einschlafen, weil ich ständig überlege, was ich mache, wenn die Erkenntnis einsetzt, während ich alleine mit ihr bin. Ich stelle mir vor, dass sie mich mit in den Abgrund reißt, dass sie verrückt wird und sich in dem Moment an mich klammert, und ich bekomme den gleichen Wahnsinn wie sie. Die tickende Zeitbombe called Mutter. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen werde ich von meinem Freund geweckt.
In dem Moment, wo der Unfall passierte, war unsere Liebe kaputt, das kann kein Paar verkraften. Auf dem Weg zur eigenen Hochzeit.
Er hat die Druck -Zeitung in der Hand. Ist der verrückt geworden? Wir waren doch anständige Menschen, die sich an ihre moralischen Gesetze auch halten. Meistens jedenfalls. Und was die Druck -Zeitung anging, immer! Er sieht sehr besorgt aus und bittet mich auf den Flur. Das Muttertier schläft noch. Ich schwinge mich aus dem Bett und gehe im Schlafanzug mit ihm raus. Es ist klar, dass es was mit dem Unfall zu tun hat. Klar. Was denn sonst,
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