Schossgebete
Benehmen ist, dass einen nicht zu interessieren hat, wie hoch die Rechnung ist, wenn man eingeladen wird. Mein Bruder ließ sich aber niemals davon überzeugen. Für ihn war sehr wichtig, dass mein Vater eine große Kaufkraft besaß. Er guckte immer auf die Rechnung, und an den Geräuschen, die er machte, konnte man erkennen, dass er sie sehr hoch fand. Dann guckte er beruhigt und bewundernd unseren Vater an. Ich verdrehte jedes Mal die Augen und tat so, als fände ich ihn peinlich. Aber heute bin ich mir sicher, dass ich auch auf die Rechnung geguckt hätte, wenn er es nicht für mich getan hätte.
Auf dem Bett sitzend habe ich das Gefühl, ich ziehe in ein Gefängnis. Ich bekomme Atemnot, das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Die Atemnot begleitet mich auch seit dem Moment. Man sieht schon, der Unfall ist das alles bestimmende Ereignis in meinem Leben. Jedem Menschen, den ich danach kennenlerne, der mir was bedeutet, erzähle ich bis ins kleinste Detail die Unfallgeschichte meiner Familie. Damit er weiß, was für eine Bedeutung der Unfall hat, für mich, mein Leben, meine Psyche, meinen Charakter, meine Ängste, meine Sorgen.
Eine Krankenschwester kommt rein. Sie stellt meiner Mutter eine Tablette im Glas auf den Nachttisch und flüstert mir zu, die solle sie einnehmen, um den Übergang in die Vollnarkose leichter zu machen. Ja, ich kümmere mich. Sie würde gleich abgeholt werden, für das Bürsten. Ach ja, so nennen die das alle hier. So umgangssprachlich. Was der Arzt uns heute Mittag beschrieben hat, die verheilende Kruste abbürsten, damit sich keine Narbengeschwülste bilden oder so.
Mit was man sich so beschäftigen muss in den jungen Jahren seines Lebens.
Ich sitze da und starre meine Mutter an, warte, bis sie die Augen aufmacht. Und entwickle eine neue Angst. Plötzlich fällt mir ihr Tropf auf, der steckt in ihrer Hand, die Kanüle steckt im Handrücken fest. Ich sehe die Flüssigkeit langsam tropfen, aber dazwischen sind Luftlöcher. Das geht doch in die Adern, klar, sonst bringt die Infusion doch nichts. Kann man nicht sterben durch Luft in den Adern, also im Blut? Ist das nicht eine krimibekannte Methode, jemanden umzubringen, ohne dass es aufgedeckt werden kann, wenn das Einstichloch vom Gerichtspathologen nicht entdeckt wird? Ich frage die Krankenschwester an der Tür, ob das nicht gefährlich ist, wenn da Luft mit reingeht. Meine Mutter ist ja kein Luftballon. Sie lacht und sagt, da müsste in dem Röhrchen schon ein Meter Luft am Stück sein. Ich bedanke mich, finde aber, dass da mit Unterbrechungen locker ein Meter Luft im Röhrchen ist. Ich werde das beobachten. Ich lasse nicht zu, dass meine Mutter jetzt stirbt, durch irgendeinen bescheuerten Kunstfehler, hier in dem Krankenhaus. Ich muss aufpassen wie ein Luchs.
Von dem Lachen der Krankenschwester ist Mutter wach geworden. Ich stehe auf, lege meine Tasche auf meinem Bett ab und gehe zu ihr rüber. Ich halte ihr das Plastikgläschen hin mit der Tablette und erkläre ihr, dass das die Vorbereitung für die Vollnarkose ist. Sie würden gleich das mit ihren Füßen machen. Da fängt sie schon an zu jammern, die sollen da nicht drangehen, die sollen den Verband so lassen. Ich erkläre ihr, in meiner gewohnten Härte, dass das nicht geht. Dass sonst der Verband am Fuß festwächst. Der muss alle zwei Tage erneuert werden. Und die Kruste muss abgebürstet werden. Klingt schrecklich, aber da muss die jetzt durch. Die Rollen drehen sich. Ich rede mit ihr, als wär sie das Kind und ich die Mutter.
Sie hört auf ihre Tochtermutter. Sie wirft das Ding ein und starrt an die Decke. Sie hat sich so verändert. Unglaublich. Ich denke, sie ist das gar nicht. Ist meine alte Mutter vielleicht mit meinen Brüdern im Auto verbrannt? Ist sie irgendwie mitgegangen? Kann das sein? Hat sie einen Teil ihrer Persönlichkeit verloren? Oder sind das allein die Medikamente? Wir werden sehen. Time will tell . Die Krankenschwester kommt rein und schiebt meine Mutter raus. Sie knallt sie gegen den Türrahmen, das finde ich nicht gut. »Bitte etwas vorsichtig, ja!«, fährt es aus mir raus. Behandle bitte mein Kind ordentlich. So!
Ich bin allein. Ich hasse es, allein zu sein. Ich laufe im Krankenhaus rum und suche meine Verwandten. Es werden immer mehr, bald ist die ganze Familie komplett. Fehlen nur noch meine Brüder. Dann können wir doch hier heiraten. Sie erzählen mir, dass sie Pizza für uns alle bestellt haben, dass sie das jetzt in Mutters Zimmer essen
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