Schossgebete
vorhandenen Trauer zu flüchten. Irgendwann muss die ja mal kommen. Und dafür müsste ich langsam lernen, Ruhe auszuhalten.
Ich höre Georg unten klappern, habe natürlich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht helfe, die meiste Wäsche ist nämlich meine. Ich atme, ich mache die Augen zu. Als Erstes kommt mir, wie immer, ein Mosaikstück vom Unfall in den Kopf. Mein Verfolgungswahn, die Zeitung betreffend. Die Sorge, sie könnten ein Foto bekommen, von mir und meinem Mann, in einer Prostituierten steckend. Das kommt natürlich daher, dass sie uns damals so dermaßen bedrängt haben, als meine Brüder gestorben sind. Nach dem Überfall des Kamerateams von Boulevard- TV in dem Krankenzimmer meiner Mutter mussten wir wohl oder übel davon ausgehen, dass die gleichen Schweine wohl auch die Beerdigung stören würden. Sie hatten auch schon überall versucht, Fotos der toten Kinder zu bekommen. Zum Glück haben alle dichtgehalten. Die ganzen Securities, die den Friedhof abriegeln sollten, innen und außen patrouillieren, um ja jedes Foto zu verhindern, mussten wir bezahlen, damit wir uns schützen vor den Schweinen. Dass man sich nebenbei auch noch mit so was beschäftigen muss, macht schon bis ans Lebensende rasend wütend. Die haben sich einen lebenslangen Feind geschaffen. Im Krimi, wenn jemand ermordet wird, fragt die Kripo doch immer erst die Verwandten: »Hatte er Feinde?« In dem Fall von den Chefs des Zeitungsverlags müssten die Ehefrauen sagen: »Ja, Elizabeth Kiehl.« Warum die überhaupt Ehefrauen haben, ist mir ein Rätsel. Müssten nicht alle Frauen zusammenhalten und sich kollektiv weigern, mit den Machern einer solchen Zeitung Sex zu haben? Dann würden die doch schon aus Notgeilheit schnell aufhören damit, egal, wie viel Geld sie vorher verdient haben mit dem Bösen.
Die Körper, also die Urnen, wurden erst lange nach dem Unfall freigegeben. Die Urnen der drei toten Kinder standen am Tag vor der Beerdigung in einem kleinen Betonraum am Friedhof. Da kann man sich noch mal verabschieden. Aber von was? Mit meiner Lieblingstante war ich da.
Ich guckte sie verschmitzt an und fragte: »Soll ich mal eine hochheben?«
»Klar, warum nicht.«
Die ist einfach locker. Die kann man mit nichts schocken. Meine Lieblingstante. Ich hob erst die Urne von dem ältesten Toten auf. Harry. Und schüttelte sie mit beiden Händen. Dann die zweite und die dritte. Sie waren alle drei unterschiedlich schwer. Die Urne vom Vierundzwanzigjährigen war am schwersten, die vom Neunjährigen war mittelschwer, und die vom Sechsjährigen am leichtesten. Wie konnte das sein, wenn doch angeblich nichts von ihnen übrig war? Meine Tante und ich kamen irgendwann auf die ernüchternde Einsicht: Es war ja im verbrannten Auto schon nichts mehr von ihnen übrig. Was sollen sie denn von ihnen im Krematorium verbrannt haben? Wenn irgendwas in dieser Urne war, das mit dem Unfall zu tun hatte, dann war es verkohlter Schaumstoff vom Rücksitzpolster. Was sonst? Die kriegen die Rückbank vorbeigebracht. Hobeln da alles runter, was zu hobeln ist. Denen wird von der Polizei erzählt, wie alt die Toten waren, die gucken in einer Liste nach, wie viel Asche man für welches Alter braucht, und dann schmeißen die da weiß der Geier was rein. Holzasche, Asche von anderen, die Übergewicht hatten und gar nicht ganz in ihre Urne passten.
Was genau war in diesen Urnen drin? Eines Tages, wenn ich mich ganz stark fühle, finde ich das raus. Dann fahre ich nach Belgien in das Krematorium, wo meine körperlosen Brüder angeblich verbrannt wurden. Und ich knöpfe mir einen Mitarbeiter so lange vor, bis ich alles weiß. Jetzt geht das noch nicht. Ich kann das noch nicht machen. Bin nicht in der Verfassung. Bin nicht gut zurecht.
An den Tag der Beerdigung kann ich mich nur ganz vage erinnern. Er war ja acht Wochen nach dem Unfall. Vielleicht setzte da langsam eine gewisse Erkenntnis ein, der Schock, der lange auf sich hatte warten lassen. Mutter hatte von ihrem Krankenbett aus bestimmt, wo der Hase lang läuft. Ich weiß noch, wie wir in dieser Minifriedhofskapelle saßen, dass viel zu viele Leute gekommen waren, um da reinzupassen. Von den drei toten Jungs jeweils die ganze Schule. Inklusive Lehrer. Eltern von Schulkameraden. Nachbarn. Sportvereine. Alle Väter, alle Omas und Opas. Freunde von allen Toten. Freunde von allen Überlebenden. Viel zu viele Leute für eine Beerdigung, erst recht zu viele für einen Kopf.
Also, ich kannte die meisten nicht. Alle
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