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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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wie das eben so geht bei einer armseligen Patchworkfamilie, da braucht man eigentlich viel mehr Platz als normalerweise, eine ganze Seite in der Zeitung, um alle unterzubringen, alle Väter, alle Omas und Opas.
    Wegen dieser Erfahrung und auch wegen der schrecklichen angechristlichten Beerdigung nachher habe ich ein Testament geschrieben, damit ich erstens was Gutes tue, wenn ich tot bin. Ich habe einen Organspendeausweis ausgefüllt und trage ihn immer bei mir. Ich spende alles: Schamlippen, Klitoris, na, die- oder derjenige wird Spaß haben!, Augen, Nichtraucherlunge, die harten, dunklen Nippel, alles könnt ihr bei mir rausholen und verteilen unter den Bedürftigen. Und zweitens: die Sache mit meiner Asche, die in den Hausmüll entsorgt werden soll. Auch wenn das verboten ist. Steht im Testament, müssen meine Nächsten irgendwie hinkriegen. Ich bin gegen Gräber, gegen Beerdigungen, gegen Briefeverschicken und Angsthaben, Leute vergessen zu haben, gegen individualisierte Beerdigungen, mit Musik und Foto, und vor allem gegen ein Grab, wo jemand die Blumen pflegen muss. An die tote Person kann man auch denken, ohne so einen hässlichen, vom Steinmetz gehämmerten Stein auf die Erde zu stellen. Ich lehne das alles komplett ab. Und deswegen schwöre ich mir jetzt schon, niemals an das Grab meiner Brüder zu gehen. Was für ein riesiger Quatsch! Gräber und das ganze deutsche Drumherum, Geschäfte machen. Anzeigen, Stein, Umschläge, Miete für das Grab, das nach vierzig Jahren verfällt, belegte Brötchen, das Wort Leichenschmaus, Streuselkuchen, Magenkrebskaffee in Thermoskannen, schwarze Kleidung, Menschen, die von Kanzeln reden, den Toten verlogen hypen, seine schlechten Seiten weglassen. Fuck you, Deutschland und deine Toten! Ich mach da nicht mit. Kein minibisschen!
    Ein einziges Mal kam ich da weg aus dem Krankenhaus. Und da durfte ich dann zu Hause schlafen bei meinem Freund. Meine Tante hat mich beim Mutterselbstmordverhindern abgelöst. Eine Nacht. Und da hatten wir das einzige Mal für lange Zeit verzweifelten Sex. Ich dachte währenddessen immer nur: Ich will leben. Fick mich ins Leben zurück! Es war das einzige Mal, dass ich mich ihm noch mal richtig hingegeben habe. Und dabei muss unsere Tochter entstanden sein. Wir hatten es vorher schon vier Jahre lang versucht. Als ich ihn gesehen habe, das erste Mal, dachte ich: Mit dem krieg ich Kinder. Es ist dann nur eins geworden. Auch weil ich geschockt bin, wie viel Arbeit und Sorgen ein Kind macht. Und ich weiß auch, warum das genau dann plötzlich geklappt hat. Ich dachte nämlich im Krankenhaus, dass ich meiner Mutter ein neues Kind schenken muss. Sie hat ihre drei Jüngsten verloren. Alles, worum sie sich kümmern konnte, war tot, war weg. Da musste Ersatz her! Ja. Das habe ich mir in meinem traumatisierten Kopf im Krankenhaus ausgedacht, und natürlich, wie das Leben so ist, hat genau da, zum ersten Mal nach vier Jahren Sex ohne Verhütung und so vielen Versuchen, schwanger zu werden, die Empfängnis funktioniert. Die Auster war offen. Das eine Mal noch für meinen Freund. Klappt in Friedenszeiten kein bisschen, aber in unseren Kriegszeiten hat es, bumsti, sofort geklappt.
    Danach verstummte unsere Liebe. Und das Allererste, das uns verloren ging, war der Sex.
    Die Geburt meiner Tochter ist also untrennbar mit dem Unfall verbunden. Ich kann nur sehr schwer über Daten aus der Zeit nachdenken. Dann tut mir sofort der Kopf weh, ist wie eine Schranke da drin. Wenn mich jemand fragt, wann meine Tochter geboren ist, weiß ich es auf Anhieb nicht, weil ich sehr ungern an diese Zeit zurückdenke. Ich denke immer diesen Umweg: Wann war der Unfall? Da wurde sie gezeugt, dann muss sie ja in dem Jahr nach dem Unfall geboren sein. Wenn ich an ihre Geburt denke, stelle ich mir drei tote Kinder daneben vor!
    Ich hasste es, wie Stefan trauerte. Er versank in sich. Wurde teilnahmslos und dick. Er nahm innerhalb kürzester Zeit zwanzig Kilo zu. Er ging mir auch so auf die Nerven, weil er hauptsächlich um den Kleinsten trauerte. Ich aber am meisten um den Ältesten. Das passte einfach nicht zusammen. Natürlich wurde die Liebe auf eine unbestehbare Probe gestellt und ist kläglich gescheitert unter dem immensen Druck!
    Ich fahre auf unseren eigenen Parkplatz vor der Wohnung. Spätestens dann, wenn man sich einen eigenen Parkplatz vor der Tür kauft, weiß man, dass man lebendig begraben ist. Weil man meint, ein Auto haben zu müssen, aber keine Lust hat, einen Parkplatz

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