Schossgebete
Sie hielt uns ständig knapp, dachte bei sich: Das Geld können wir doch für uns sparen, indem wir die beiden Kinder verhungern lassen. Sie fand uns immer maßlos: laut, gierig, verfressen, egoistisch, verwöhnt. Und hat uns das jede Minute spüren lassen.
Das Schlimmste an meiner Stiefmutter war, dass sie uns die seltene wertvolle Zeit jedes Mal ruiniert hat, die wir mit unserem geliebten Vater hatten. Wir durften ihn nach der Scheidung alle zwei Wochen für eine Nacht sehen. Wir freuten uns so auf ihn, die ganze Zeit. Wir haben ihn ständig so sehr vermisst. Unseren reichen Papa, mit seinem roten Sportwagen und seinem tollen Job in der Spielzeugfabrik. Aber sie war immer dabei. Ich habe meinem Vater leider auch nie angemerkt, dass er versucht hat, sich schützend vor uns zu werfen, gegen seine neue Frau. Wir hätten uns das so sehr gewünscht. Ein Bekenntnis. Ein Liebesbekenntnis vom Vater an seine Kinder. Gegen die geistesgestörte Frau. Niemals. Er hat immer versucht, loyal zu allen zu sein. Schade.
Außer diesem einen Mal! Ein paar Tage nach dem Unfalltod seines einzigen Sohnes. Sie sind alle im Krankenzimmer meiner Mutter. Diese lächerliche Todesanzeige soll aufgesetzt werden. Damit alle über den Unfalltod meiner Brüder unterrichtet werden können. In Zeiten von Telefon, E-Mail und leider auch der beschissenen Druck -Zeitung gar nicht nötig. Und diese Todesanzeige und die Einladung zur Beerdigung müssen wir grotesk weit in die Zukunft datieren, weil die Körper von der Polizei nicht freigegeben sind. Welche Körper? Sehr witzig. Wir glauben alle nicht an Friedhöfe, Leben nach dem Tod, Beten, jede Form von christlichen Ritualen. Und dann das! Das volle Gegenprogramm. Sehr inkonsequent. Aber es gibt leider keine atheistische Alternative. Also setzen wir wie die Idioten Todesanzeigen in der lokalen Presse auf und laden zur Beerdigung in zwei Monaten auf dem heimischen christlichen Friedhof. Haben die uns doch gekescht, hintenrum.
Immer wenn jemand stirbt, spielt ja die lächerliche Reihenfolge der Genannten auf der Todesanzeige eine immense Rolle. Überhaupt darüber zu reden, wenn grad jemand gestorben ist. Wahnsinn! Aber bei uns spielt es plötzlich auch eine große Rolle. Ich will aus Protest zuletzt genannt werden. Darf ich aber nicht. Mit Freiwilligkeit hat das nämlich null zu tun. Ich muss vorne stehen, mit meiner Mutter und meiner übrig gebliebenen Schwester. Mutter will keinen Mann neben sich stehen haben, weil sie ja von allen getrennt ist.
Und als es dann schließlich um die Reihenfolge der Väter und ihrer neuen Frauen geht, sagt mein Vater diese ungeheuerlichen Sätze:
»Ich möchte nicht, dass meine Frau da überhaupt mit draufsteht. Sie hat Harry gehasst. Sie darf nicht mit auf die Anzeige.«
Sie ist mit im Zimmer. Hat das mit ihren eigenen Ohren gehört. Alle halten inne, um diese unglaubliche Aussage auf sich wirken zu lassen. Ich muss in mich reinlächeln, weil ich weiß, dass mein toter Bruder meinem Vater recht gegeben hätte. Dass er sich über diesen einzigen Liebesbeweis seines Vaters gefreut hätte. Nur schade, dass er so etwas zu Lebzeiten nie erleben durfte.
Mein Vater hatte recht. Sie hat Harry wirklich gehasst. Noch mehr als mich. Vielleicht weil mein Bruder meinem Vater noch näher war. Sie sahen genau gleich aus. Die weiblichen Gene der Mutter sind in die Tochter gegangen, ich sehe aus und bin wie meine Mutter, leider, mein Bruder sah aus und war wie mein Vater. Die Stiefmutter hat das mit der Nichtnennung auf der Todesanzeige so akzeptiert, da gibt es aber auch nichts dran zu rütteln. Bei dieser festen Stimme, die mein Vater bei dem Ausspruch hatte. Jetzt ist für mich nur unglaublich, dass die bis heute zusammen sind. Die Frau, die er nicht auf der Todesanzeige seines Sohnes haben will, weil sie ihn gehasst hat und ihn das jede Sekunde hat spüren lassen, ein kleines Kind, das für diese verpfuschten Familienverhältnisse nichts kann, keine Gnade, niemals, keine Besserung, bis es für immer zu spät ist, weil er tot ist. Ihr Verhalten ist manifestiert, in Marmor gemeißelt, dadurch, dass sie verschwiegen wird auf unserer Familienanzeige.
Und die sind noch verheiratet! Er lässt es zu, dass sie an seiner Seite ausgesorgt hat. Er lebt mit dem Feind seines toten Sohnes unter einem Dach, in einem Bett. Unglaublich. Alleine das reicht schon, um mit den beiden nie wieder was zu tun haben zu wollen. Die Treppchenplätze auf der Anzeige wurden ansonsten gerecht verteilt,
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