Schossgebete
natürlich lächerlich in Schwarz, was soll der Scheiß eigentlich? Vorne in der Kapelle hingen die riesengroßen Fotos von den dreien. Ich fand meinen großen Bruder wahnsinnig schlecht getroffen. Ich habe keine Ahnung, wer was gesprochen hat. Alles zog so an mir vorbei. Beerdigungen sind doch nun wirklich fast alle gleich, wie soll man die auch auseinanderhalten? Außer den ständig wechselnden Fotos da vorne. Außer den Fotos hab ich alles in der Kapelle vergessen. Und draußen weiß ich auch nur noch, dass wir alle lächerlicherweise hinter diesen getürkten Urnen hergehen mussten. Schön langsam, wie sich das auf einer Beerdigung gehört. Und ich kann mich noch erinnern, dass ich mir ständig leise sagen musste: »Nicht lachen, nicht lachen, nicht lachen, Elizabeth.« Der Druck, so ein komisches Pietätsgesicht aufzusetzen (lernt man auch nicht in der Schule), ist so groß, dass ich das Gefühl hatte, das kann locker ins Gegenteil abrutschen.
Ich fühlte mich extrem beobachtet. Alle suchen den Wahnsinn in unseren Augen. Ja, aber den werdet ihr nicht finden, der kommt nämlich erst viel später! Und ich kann mich noch ganz klar an den Gedanken erinnern: Wo bleiben die drei Jungs eigentlich? Wir machen hier so ein Brimborium für die, und die kommen zu spät! Unverschämtheit! Typisch für die! Ich habe sie überall gesucht. Das ist auch bis heute so geblieben. Ich suche sie aber, wie sie vor acht Jahren aussahen, ich kann sie mir natürlich nicht älter vorstellen!
Ich schob Mutter in ihrem Rollstuhl, sie hatte Ausgang vom Krankenhaus, auf eigene Verantwortung, wie es so schön heißt, sie war vollgepumpt mit weiß der Geier was, gegen die Schmerzen im Rücken, an den Füßen, im Herzen, im Hirn. Ich schob sie so vor mich hin und dachte die ganze Zeit nur, ich will hier weg, das hier ist ihre Show, ganz sicher. Alle Väter raunten mir vorher zu: »Hoffentlich will sie nachher nicht am Grab stehen und sich von allen die Hand schütteln lassen!«
Ich konnte mir ja vorher nicht vorstellen, wie viele Leute drei tote Jungs anlocken würden, als ich sie aber alle sah, den ganzen Friedhof voll, hoffte ich auch inständig, dass sie sich nicht von all den Menschen die Hand schütteln lassen wollen würde. Sie war aber durch die Medikamente leider wie von der Tarantel gestochen. Alle engsten Verwandten hauten ab, sobald man diese sinnlosen Behältnisse in das Erdloch gelassen hatte. Alle, die noch alle Tassen im Schrank hatten, hauten ab. Pflichtteil erledigt. Jetzt begann die Kür. Meine nicht mehr als solche zu erkennende Mutter und ich, als ihr Rollstuhlsklave, standen stundenlang an der offenen Erdwunde und ließen jeden, der mal wollte, über uns drüberrutschen. »Herzliches Beileid.« Der Nächste bitte. »Herzliches Beileid.« Danke. Danke. Danke. Danke. Bla, bla, bla. Irgendwann war ich mir sicher, dass die sich alle wieder hinten anstellten, weil’s so lustig war, noch mal und noch mal, die Schlange der angeblich Trauernden riss nicht ab. Was für ein Fuckup! Ich geh nie wieder auf eine Beerdigung!
Der ganze Friedhof, alle Gänge, breit und schmal, war voller Kinder. Passt ja. Grab voller Kinder. Friedhof voller Kinder.
Irgendwann hatten wir Trauerarbeiterinnen Feierabend und durften im Liegendtransport zurück ins ruhige Krankenhaus.
Ich atme schwer, spüre Druck auf der Brust. Ich muss die quälenden Gedanken loswerden. Und wie mache ich das am besten? Mit Sexgedanken verdrängen, der ewig gleiche Trick im Kopf. Das funktioniert wenigstens.
Gut, jetzt habe ich ihm gesagt, dass wir morgen in den Puff gehen. Aber er glaubt mir sowieso nicht, dass ich das nur gut finde. Ich kann mich sexuell selber nur schwer verstehen. Es ist schwierig für mich, einen Draht dazu zu bekommen. Er und ich müssen mich manchmal ganz schön zwingen. Abgesehen von den ersten Monaten, habe ich mich die letzten Jahre doch sehr bitten lassen zum Sex im Allgemeinen und zu sexuellen Abenteuern, in die Dritte involviert sind, im Besonderen. Meine Therapeutin sagt, viele Frauen machen das. Sie nennt das »Tränchen verdrücken«. Das bedeutet, die Frau kann nicht einfach so Sex haben, es muss vorher ein kleiner, feiner Streit sein, der Mann muss eine Hürde überwinden, zum Beispiel die Unlust der Frau, durch Betteln, Verführen, was weiß ich, und dann allmählich macht man die Auster auf. Genauso bin ich. Wenn ich weiß, der Sex ist unausweichlich, breche ich einen Streit vom Zaun, für Aufschub oder sogar Ausfall, oder ich beichte
Weitere Kostenlose Bücher