Schossgebete
Nachher höre ich nie wieder auf. Ich wische schnell die Tränen weg. Wir machen unsere übliche Nachbesprechung. Wir fanden ihn beide sehr gut. Dann gehe ich wie immer früher ins Bett als Georg. Er möchte noch eine Folge Six Feet Under gucken. Da kann ich leider nicht mitmachen.
Badezimmer. Übe vor dem Spiegel sinnlose Gesichtsausdrücke, die ich eh nie brauchen werde. Gucke mir voller Stolz meine grauen Schläfen an. Ich fühle mich älter, als ich bin, und wenn ich mich dann angucke, wundere ich mich, dass ich noch so jung bin. Ich putze mir die Zähne.
Wenn mich mein Mann fragt, was willst du, was willst du mal machen? In Zukunft? Hobbys? Träume? Wünsche? Dann weiß ich nie, was ich antworten soll. Ich denke immer überrascht: Was? Ich bin doch bald weg. Ich investiere doch jetzt nicht mehr in eine Langspielplatte. Ich habe keine Hobbys, keine Leidenschaft, nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Ich lebe, weil ich ein Kind und einen Mann habe. Für sie. Nicht für mich. Noch schnell die Haare gekämmt, damit es morgen früh nicht so schlimm ist mit den Knoten.
Auf dem Weg ins Bett wundere ich mich darüber, warum Leute überhaupt abends im Bett Sex haben. Es kommt mir so unpassend vor. Ich weigere mich, abends im Bett Sex zu haben. Weil ich dann nie weiß, was los ist. Wenn wir nebeneinanderliegen und nicht wissen, ob der andere jetzt will oder nicht oder schlafen oder nicht. Das ist doch verwirrend. Jedenfalls für mich. Und dann kann ich nicht einschlafen. Wenn ich die ganze Zeit überlege, atmet der jetzt so, weil er Sex haben will, oder schläft der längst? Darum kann ich nur tagsüber im Bett Sex haben.
Wenn doch allen der Sex angeblich so wichtig ist, warum hat man dann nicht ein eigenes Möbel genau dafür? Warum muss man Sex in der Schlafstätte haben oder auf der Couch, warum gibt es keinen Sexraum oder wenigstens ein Sexmöbel. Versteh ich nicht. Macht doch voll Sinn. Ich will einfach ganz genau wissen, so, jetzt gehen wir schlafen, wie eine kleine Autistin. Bloß keine Verführung abends im Bett, dann werde ich malle.
Ich lege mich ins Bett. Muss erst mal ein bisschen runterkommen, habe mich jetzt innerlich so aufgeregt über das ganze Sex- und Schlafthema, Mann, kann ich mich aufregen, nur ich, ganz alleine, im dunklen Zimmer, es geht immer um Grundsätzliches. Anstrengend! Ich in mir. Fuck! Meine Therapeutin hat mir schon mehrmals Psychopharmaka angeboten. Die nehme ich aber nicht. Ich habe Angst vor Psychopharmaka. Nehm ich niemals, nur über meine Leiche. Wenn ich so depressiv bin, dass ich sterben will, kommt oft vor, dann nehme ich doch kein Mittel, was mich dran hindert. Außerdem habe ich immer das Gefühl, Depression ist genau das richtige Gefühl in dieser Welt, warum sollte ich das mit Medikamenten wegmachen? Die depressive Weltsicht ist die richtige Weltsicht. Lieber Selbstmord als Medikamente dagegen. Ist romantischer, ehrlicher, echter!
Wie immer im Bett abends wandern meine Gedanken zu meiner Mutter, für die ich meine Tochter geboren habe. Wenn meine Mutter heutzutage mit meiner Tochter unterwegs ist, habe ich die ganze Zeit Todesangst. Um mein Kind. Es schmerzt in meinem ganzen Körper, wenn sie mit ihr im Auto fährt. Ich stelle mir ganz genau vor, wie sie unabsichtlich oder auch absichtlich gegen einen Brückenpfeiler fährt und beide sofort tot sind. Bei der unabsichtlichen Version reißt ihr unbearbeitetes Unterbewusstsein beim nächstbesten Pfeiler das Lenkrad rum, weil sie mit ihrem Enkelkind zusammen ihren eigenen Kindern nah sein will, nämlich tot. Bei der absichtlichen Version ist ihr ganz bewusst, dass sie Rache an mir üben will, weil sie so sauer auf mich ist, dass ich noch empfangen könnte und sie nicht.
Dass sie bis zu ihrem Tod nicht mehr gefüllt sein wird mit diesem glückbringenden Fleisch in der Gebärmutter. Sie wird nie mehr eine in Speck eingewickelte Dattel sein. Keine gefüllte Praline. Kein Cordon bleu. Sie muss alleine in ihrem Körper leben, bis sie stirbt. Das wird schlimm für sie. Ich freue mich immer sehr, wenn mein Kind heil wieder zu Hause ankommt. Ich sage mir jedes Mal: Das hätte ich nicht gedacht.
In meiner Leichenschlafstellung grübele ich schnell noch ein bisschen über die Sexualität meines Mannes nach, lieber als über verbrennende Kinder und die Folgen.
Die sexuelle Sozialisierung von meinem Mann und mir könnte unterschiedlicher gar nicht gewesen sein. Er durfte nur sehr wenig ficken. Bekam meistens nicht die, die er wollte.
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