Schottische Disteln
ließ sich die Speisekarten bringen und beobachtete Andrea, die mit gerunzelter Stirn die Liste der Gerichte studierte.
»Möchtest du etwas Bestimmtes?«
»Gibt es hier Spezialitäten des Hauses? So etwas probiere ich immer gern.«
»Die Küche ist berühmt für ihre Forellengerichte. Etwas unterhalb der Straße liegt ein Bergsee mit mehreren Wildwasserzuflüssen, da gibt es die besten Fische der ganzen Region.«
»Dann würde ich gern Forelle essen.« Andrea sah aus dem Fenster und hinunter ins Tal, wo im windstillen Wetter die blanke Wasserfläche zum Spiegel der umliegenden Berggipfel geworden war.
»Ist es dir recht, wenn ich einen Weißwein aus Kalifornien bestelle? Früher hatten sie hier eine Marke, die ich sehr mochte, vielleicht gibt es die noch.«
»Warst du oft hier?«
»Nein, zwei- oder dreimal, und es ist schon lange her. Mein Vater war ein Moorhuhnjäger, und ein Freund von ihm besaß hier oben eine Jagd, da hat er mich manchmal mitgenommen, damit ich die ›richtigen‹ Leute kennen lernte. Bei der Gelegenheit habe ich diesen Wein getrunken.«
»Und«, Andrea schmunzelte, »hast du auch die richtigen Leute kennen gelernt?«
Auch Ryan musste lachen. »Nein, eigentlich nicht. Wenn diese Naturburschen morgens in der Dämmerung mit ihren Büchsen und ihren Hunden aufbrachen, dann habe ich mich im Bett auf die andere Seite gedreht und die Decke über den Kopf gezogen. Es war die einzige Möglichkeit, mal auszuschlafen. Weder im Internat noch beim Militär und erst recht nicht während der Lehrjahre auf der Werft ließ man mich mal ausschlafen. Und wenn die Männer dann zurückkamen, die armen Hühner stolz an die Gürtel gehängt und so viel Whisky in den Bäuchen, dass sie nicht mehr richtig sehen konnten, habe ich mich wie ein begeisterter Mitläufer dazwischengemogelt und den Beifall der Damen geerntet.«
»Du warst ja ein ganz Schlimmer.«
»Ich war nur egoistisch genug, das zu tun, was am besten für mich war.«
Sie beobachtete ihn, wie er den Wein probierte, mit dem Kellner sprach, das Essen bestellte, eine ganz bestimmte Salatsoße erbat und über den Nachtisch verhandelte. Sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, Ryan in einem Restaurant oder unter anderen Menschen zu erleben. Sie kannte den Schäfer, der sich selbst versorgte, den Besucher im Krankenhaus, der sie verwöhnte, und daher ein wenig den Chef, der seinen Angestellten gegenüber bestimmt, aber fair auftrat.
»Ach Andrea, hast du mich auf den Prüfstand. gestellt?«
»Dir bleibt aber auch nichts verborgen. Ja, es wird Zeit, dich unter die Lupe zu nehmen.« Sie nickte freundlich und ganz unbefangen. »Du versuchst, einen ziemlich großen Platz in meinem Leben einzunehmen, oder täusche ich mich da?«
»Du täuschst dich nicht.«
»Dann wird es Zeit, dich kennen zu lernen, bevor es zu spät ist.«
»Bevor es zu spät ist?«
»Bevor ich mich in diese Beziehung so verstrickt habe, dass ich nicht mehr herausfinde.«
»Wäre das so schlimm?«
»Ja.«
»Und warum? Hast du Angst vor einer Beziehung?«
»Ich brauche meinen Freiraum, ich brauche eine gute Sicht auf die Dinge, die um mich herum passieren, und vor allem muss ich wissen, worauf ich mich einlasse.«
»Und das weißt du nicht?«
»Sagen wir, ich weiß es noch nicht.«
»Wenn du ehrlich bist, musst du erkennen, dass du jeden Freiraum hast, den du willst, und niemand dir deine Sicht verstellt.«
»Ja, und dafür bin ich dankbar. Lass mir einfach ein bisschen Zeit. Bitte.«
XXII
Mabel Jackson erwartete ihre Gäste voller Sehnsucht. Miss Steinberg hatte bei ihr angerufen um zu fragen, ob sie in den nächsten Wochen bei ihr wohnen könnte, und Mabel hatte mit Begeisterung zugesagt. Sie hatte natürlich, als man nach dem Unfall das Gepäck von Miss Steinberg holte, erfahren, was geschehen war und vor allem wer Ryan McGregor war. So eine bestimmte Ahnung hatte ich ja, dachte sie und erinnerte sich an die Puppe und die Tweedjacke, aber die Gewissheit kam erst mit dem Chauffeur, der nur zu bereitwillig ausplauderte, wer Miss Steinberg gerettet hatte und wohin der Koffer ihres Gastes gebracht werden würde.
Und nun wollte sich Miss Steinberg bei ihr erholen, und das, so hoffte sie, würde mit Sicherheit bedeuten, dass der berühmte Mr McGregor in ihrem Haus aus- und eingehen würde. Nun wartete sie auf die Gäste. Miss Steinberg hatte sich für den späten Nachmittag angemeldet, und sie hatte den Vormittag genutzt, ihr Haus auf Hochglanz zu bringen. Ein Mädchen aus
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