Schottische Disteln
verabschiedete sich galant mit einem Handkuss, und Andrea versprach, sich in zehn Tagen noch einmal zu melden, bevor sie zurückflog.
Zwei Tage später war sie unterwegs. Sie hatte ihre Aufnahmen in Edinburgh gemacht und war noch immer fasziniert von dieser geschichtsträchtigen Stadt, die, wenn man auf der Suche danach war, Geheimnisse preisgab, die noch nirgends abgebildet worden waren. Andrea war sehr zufrieden, als sie ihren Wagen zunächst in Richtung Dundee und dann weiter nach Aberdeen lenkte und auf verhältnismäßig kleinen Straßen den Linksverkehr und den Allradantrieb übte. In Edinburgh war sie vorsichtshalber nur mit Bussen und Taxis unterwegs gewesen. Nach ihrem Aufenthalt in Aberdeen, dieser vom Ölboom zu einer Wirtschaftsmetropole avancierten hektisch-betriebsamen Stadt, wurde die Einsamkeit Schottlands beinahe greifbar. Steile Klippen zum Meer hinunter, eine harte, aggressive Brandung und ein ständiger heftiger Wind zeigten das Land von seiner rauen Seite, aber braungrüne Hochmoore mit blinkenden kleinen Tümpeln im Sonnenlicht und violett leuchtende Hügelhänge voller Heidekraut versöhnten die aufgewühlte Seele und vermittelten die Geruhsamkeit dieses Landstriches.
Andrea war entzückt. Immer wieder stieg sie aus, weil sie die einzigartige Schönheit der Wildnis mit der Kamera einfangen wollte. Am vierten Tag verließ sie die Küste kurz vor Elgin und machte einen Abstecher am River Spey entlang nach Süden. Sie hatte den Whisky-Trail erreicht und genoss die friedliche Landschaft mit ihren vielen kleinen Dörfern, in denen eine Brennerei auf die andere folgte, in der Angler die fettesten Lachse aus dem kristallklaren Wasser des Spey holten und die großen Herden der schwarzköpfigen Highlandschafe in friedlicher Einsamkeit grasten. In Grantown verließ sie den Trail und kehrte nach Norden zurück an die Küste. Kurz vor Inverness suchte sie sich in einem kleinen Dorf ein Quartier für die kommende Nacht.
Andrea hatte die kleinen Dorfgasthäuser lieben gelernt. Sie versprachen Geborgenheit und eine sanfte Atmosphäre, in der man sich erholen konnte, ohne auf Kleiderordnung oder Imagepflege Rücksicht nehmen zu müssen. Auch hier, unweit von Inverness, fand sie solch einen Gasthof. Aus grob gehauenen Steinen gebaut, wirkte er mit seinen kleinen Fenstern in den dicken Mauern rundum gemütlich. Eine Planke neben dem Eingang und ein großer Wassertrog verrieten, dass noch vor gar nicht langer Zeit Kutschenpferde hier ausgetauscht worden waren und Arbeitspferde noch heute an der Barriere angebunden wurden, wenn die Bauern Rast in der Wirtsstube machten. Kastanien warfen lange Schatten über den Vorplatz, und in den Butzenscheiben spiegelte sich die untergehende Sonne. Es wurde Zeit, ein Bett für die Nacht zu finden. Andrea stieg aus und betrat das Haus. Ein großer Dahlienstrauß in einer Bodenvase, ein flauschiger Schafwollteppich, Ölbilder mit Landschaftsmotiven und ein müder Golden Retriever, der nur träge den Kopf hob, als sie eintrat, empfingen sie. In der Gaststube saßen ein paar Männer beim Guinness, und die Wirtin, eine rundliche Frau mit grauen Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen, putzte Gläser.
»Hätten Sie ein Zimmer für mich? Ich würde zwei Nächte bleiben.« Andrea nickte den Männern zu und sah die Wirtin fragend an. Sie wusste, dass man Gäste, die nur kurze Zeit blieben, nicht sehr liebte, weil der Aufwand in keinem Verhältnis zu den Einnahmen stand, aber länger konnte sie einfach nicht bleiben.
Doch die Wirtin nickte: »Natürlich, ich habe ein sehr schönes Zimmer. Wenn Sie es sehen wollen, ich gehe mit Ihnen hinauf.«
Sie nahm einen Schlüssel und begleitete Andrea über die Treppe in das Dachgeschoss. Das Zimmer war mit schlichten Bauernmöbeln ausgestattet und wirkte sauber und gepflegt.
»Danke«, nickte Andrea, »ich nehme es. Gibt es auch ein Bad?«
»Ja, gleich auf der gegenüberliegenden Seite vom Flur. Sie müssten es mit anderen Gästen teilen, aber es wohnt niemand hier, also ist es Ihr Bad.«
»Fein. Dann hole ich jetzt meinen Koffer. Bekomme ich bei Ihnen auch ein Abendessen?«
»Natürlich, sagen Sie mir nur, wann Sie essen wollen, dann wird es auch fertig sein. Möchten Sie etwas Warmes oder nur Brot?«
»Ich habe den ganzen Tag von Sandwiches gelebt, da wäre etwas Warmes sehr angenehm.«
»Ganz wie Sie wünschen. Ist es in einer Stunde recht?«
»Das wäre wunderbar. Danke.«
Als sie ihr Gepäck hereinholte, fiel ihr Blick auf
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