Schottische Disteln
den ersten Preis im Wettbewerb bekommen. Woher nehmen Sie das Geld, das Sie Ihren Freunden geben wollen? Ich denke mir, so viel verdient ein Schäfer auch nicht unbedingt.«
»Sehen Sie, einige Schafe gehören mir. Es ist erlaubt, dass ein Schäfer ein paar eigene Tiere in der Herde mitlaufen lässt. Zwei davon habe ich vorige Woche verkauft, ich habe das Geld, wie Sie sehen, und ich habe es auf ehrliche Weise verdient.«
»Na schön, lassen wir das gelten. Was aber ist, wenn die Bauern dahinter kommen? Es sind doch Ihre Freunde, und Freunden sollte man vertrauen können. Wenn diese Basis fehlt, ist es aus mit der Freundschaft, nicht wahr?«
»Sie haben ja Recht. Aber außer Ihnen weiß doch keiner etwas von meinen Manipulationen.«
Ryan erkannte mit Schrecken, welchen Wert Andrea auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen legte. Wie lange konnte er seine Lügen, auch ihr gegenüber, noch aufrechterhalten?
»Könnten wir nicht von angenehmeren Dingen sprechen?«
»In Ordnung.« Andrea nahm ihre Tasche und suchte einen der Fotoapparate heraus. »Ich werde ein paar Schafe fotografieren und die Hunde und die Blumen dort drüben.«
»Das sind Disteln.«
»Sie sehen sehr schön aus, so bizarr mit diesen zarten violetten Blütenköpfchen auf dem stacheligen Kraut.«
»Es sind unsere Nationalblumen. Die alten Schotten haben sie sogar im Wappen verewigt.«
Andrea stand auf und fotografierte. Die Schafe, sehr scheu, rannten weg und sprangen in hohen Bögen übereinander, und die Hunde hatten Mühe, sie zusammenzuhalten. Ryan lachte, steckte sich eine Pfeife an und genoss das Durcheinander.
Als sie zu ihm auf die Bank zurückkam, sah er sie interessiert an. »Ihnen macht die Arbeit Spaß.«
Aber Andrea zuckte die Schultern. »Ich bin da gar nicht mehr so sicher.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich weiß es nicht genau. Bis gestern dachte ich, es sei ein annehmbarer Beruf, der mich einigermaßen ausfüllt, auch wenn er mir keine großen Chancen für die Zukunft lässt.«
»Aber?«
»Ich werde immer nur eine angestellte Fotografin sein. Ich habe kein Geld, um mich selbstständig zu machen, und ich werde nie genug verdienen, um ein Studio zu eröffnen. Aber das weiß ich natürlich schon lange. Bloß gestern, da ist noch etwas hinzugekommen, eine Art Unzufriedenheit.«
»Gestern auf dem Trödelmarkt?«
»Genau. Wenn ich fotografiere, was habe ich dann in der Hand? Ein Stück Papier, nichts weiter. Ich kann dieses Schaf nicht anfassen, die Blume nicht riechen, es bleibt nur Papier übrig. Ich habe auf diesem Markt ein paar hübsche Stücke gesehen, verschmutzt und kaputt. Und jetzt fühle ich ein regelrechtes Kribbeln in den Händen, so ein Stück Holz anzufassen, zu reinigen, zu reparieren, zu polieren – wie schön muss es aussehen, wenn man den alten Glanz wiederherstellen könnte. Ich glaube, so etwas würde mir Spaß machen.«
»Es wäre die Arbeit von Spezialisten.«
»Ich weiß, ich könnte das natürlich nicht selbst machen, aber ich könnte es in die Wege leiten.«
Ryan hörte ihr aufmerksam zu. »Und dann, was dann?«
»Dann könnte man diese alten, wunderschönen Sachen verkaufen. Es gibt Sammler und Liebhaber, die ein Vermögen dafür bezahlen würden. Ich weiß das aus Hamburg, aber diese ganzen deutschen Antiquitäten bieten nichts Neues mehr. Früher war das anders, da war der Trend neu, da war es schick, ein altes Butterfass im hochmodernen Wohnzimmer zu haben und in einer hundertjährigen Kinderwiege seine Blumentöpfe zu präsentieren. Dieser Trend ist vorbei. Aber die schottischen Sachen, dieser Highlandkram, um es mal profan auszudrücken, das wäre eine ganz neue Richtung.«
»Ich verstehe zu wenig von diesen Dingen, Andrea.«
»Es sind ja auch nur Träume. Ich bin eine hoffnungslose Träumerin, Ryan.«
»Ich finde es schön, wenn man noch Träume hat.«
»Manchmal gehen sie auch ein bisschen in Erfüllung.« Und sie erzählte ihm von den Träumen ihrer Kindheit, von den großen Hunden, von dem stichelhaarigen Pferd Sico und dem fröhlichen Flöckchen, vom ersten Auto und von den ersten Kurzreisen. Nur von dem Mann ihrer Träume erzählte sie ihm nichts. Ryan, neben ihr auf der Bank, hatte die Ärmel hochgekrempelt. Mit heimlichem Vergnügen betrachtete Andrea die kleinen Haare auf seinen Armen, die im Sonnenschein golden schimmerten. Romantische Träumerei!
IX
Andrea träumte vor sich hin und blickte mit blinzelnden Augen in den hellen Himmel, über den ein schwacher Wind kleine Wolken
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