Schrei Aus Der Ferne
mit belegter Stimme. »Natürlich nicht. Und wenn es jemand gewesen wäre, den wir kennen, hätte er uns das doch bestimmt erzählt. Sofort, nachdem er erfahren hat, was passiert ist.«
Es sei denn, diese Person hätte ihre Gründe gehabt, das nicht zu tun, dachte Will. Nachbarn, Verwandte, Freunde: Er wusste, dass die meisten Kinderschänder in diesem Kreis zu finden waren, obwohl es hin und wieder Gelegenheitstäter wie Mitchell Roberts gab. Und je näher sie dem Opferstanden, desto gefährlicher konnten sie sein. Der Zugang zu den Kindern bot Gelegenheiten. Fantasien ließen sich manchmal allzu leicht in die Tat umsetzen. Spielereien gerieten außer Kontrolle.
»Und überhaupt«, sagte Andrew, »wenn das passiert wäre, wäre sie jetzt hier. Der Betreffende hätte sie nach Hause gebracht.«
»Außer, sie hätte darum gebeten, anderswo abgesetzt zu werden.«
»Anderswo? Wo denn?«
Will schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Bei Ihnen klingt das so, als hätte sie ein geheimes Leben geführt. Ein Leben, über das wir nichts wissen.« Er brach ab, um Luft zu holen. »Sie ist ein ganz normales Mädchen. Sie geht zur Schule. Sie spielt mit ihren Freunden. Sie hat keine Geheimnisse vor ihrer Mutter und mir. Das hat sie nicht.«
Alle Kinder haben Geheimnisse, dachte Will.
Immer noch sagte Ruth nichts. Auf ihrem Gesicht spielte sich sehr wenig ab. Will fragte sich wieder, wie viel sie wirklich von dem gehört hatte, was gesagt worden war, wie viel sie erfasst hatte. Er fragte sich, ob es die Medikamente waren, die sie in diesen Zustand versetzten, oder etwas tiefer Liegendes.
»Ich wollte Sie das wissen lassen«, sagte er, »bevor die Information an die Medien gegeben wird. Wir wollen einen Aufruf machen. Sollte jemand an diesem Abend beobachtet haben, dass ein Mädchen in einen grünen Corsa gestiegen ist, bitten wir die betreffende Person, sich zu melden. Vielleicht hat jemand sie auf dem Beifahrersitz sitzen sehen. Entweder ich oder Anita werden Sie über die Entwicklung auf dem Laufenden halten.«
»Danke«, sagte Andrew und erhob sich, um Will zur Tür zu bringen.
»Da ist noch etwas anderes«, sagte Will.
Andrew sah ihn besorgt an und zuckte zusammen, als erwartete er, geschlagen zu werden.
»Fotografien«, sagte Will. »Auf Ihrem Computer befanden sich einige Fotos von Beatrice. Aus der letzten Zeit, wie es scheint. Sie haben eine E-Mail geschickt und den Absender gebeten, sich zu identifizieren. Soweit wir das feststellen konnten, erhielten Sie keine Antwort.«
Andrew blinzelte und setzte sich wieder hin. Ruth bewegte die Hände im Schoß und zog die Decke fester um sich.
»Wir haben unser Möglichstes getan, um den Absender aufzuspüren, aber bislang ohne Ergebnis. Der Account wurde geschlossen. Wir überprüfen das natürlich weiter, aber unsere Computerspezialisten stoßen immer wieder auf Hindernisse. Ich habe mich gefragt, ob Sie mir weiterhelfen können?«
Andrew räusperte sich, hielt sich die Hand vor den Mund und hustete. »Eigentlich nicht, nein. Wir haben keine Ahnung. Zuerst dachten wir, vielmehr ich, es sei ein Freund von uns gewesen – Lyle, Lyle Henderson, dessen Frau Catriona hier bei Ruth geblieben ist –, aber nein, er war es nicht, keinesfalls.«
»Warum haben Sie gedacht, es wäre Ihr Freund Lyle gewesen?«, fragte Will und sein Puls beschleunigte sich ein wenig.
»Er hat sich gerade eine neue Kamera gekauft, das ist alles. So eine raffinierte digitale Spiegelreflexkamera. Ich dachte, er wollte sie ausprobieren und uns zeigen, wie gut sie ist und was sie alles kann.«
»Sie haben ihn danach gefragt?«
»Ja, natürlich.«
»Und?«
»Und er hat gesagt, dass er es nicht war.«
»Aber er ist ein leidenschaftlicher Fotograf, Ihr Freund Lyle?«
»Ich würde eher sagen, dass er teure Spielzeuge liebt. Typische Männerspielzeuge. MP 3-Player , Mobiltelefone, Computer. Braucht er angeblich alles für sein Boot.«
»Sein Boot?« Will sah das plötzliche Interesse auf Anita Chandras Gesicht, als sie das hörte.
»Ein Motorboot, das im Jachthafen liegt.«
»Was Beatrice betrifft«, sagte Will, »hat Lyle je Interesse gezeigt, sie zu fotografieren?«
»Kein besonderes, nein. Ich meine, er hat Bilder von ihr gemacht, von uns allen. Draußen auf dem Fluss, solche Fotos eben. Eigentlich nur Schnappschüsse. Nichts Außergewöhnliches. Sie wissen, wie das ist. Unter Freunden.«
»Er und Beatrice haben sich gut verstanden?«
»Ja. Ist auch schwer, sich mit Lyle
Weitere Kostenlose Bücher