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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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zu dem man in der Not betete.
    Ruth hatte gebetet.
    Sie hatte um ein Wunder gebetet.
    Sie hatte darum gebetet   – gnade Gott   –, dass Kelly gestorben wäre und nicht Heather.
    Schließlich hatte sie das aufgegeben. Nicht den Glauben an die Möglichkeit einer anderen, einer spirituellen Welt, aber sie glaubte auch nicht, es gäbe kein Leben nach dem Tode. Und sie glaubte nicht mehr, dass sie irgendetwas tun könnte, um Dinge zu ändern oder zu bewirken.
    Warten. Offen bleiben. Das war alles.
    Sie war gut im Warten, fand Ruth. Konnte man überhaupt etwas anderes tun? Sie hatte gewartet, und durch die Bemühungen ihrer Freunde, nicht durch ihre eigenen, war Andrew dahergekommen und mit ihm die Möglichkeit einer Gemeinschaft und neuen Glücks in einer Beziehung, die zwar nicht die Höhen und Tiefen ihrer Ehe mit Simon hatte, aber Stabilität und ein gewisses Maß an Verständnis bot. Sie ging immer noch mit Catriona ins Kino und manchmal kamenLyle oder Andrew mit oder sogar beide; gelegentlich fuhr sie mit dem Zug nach London, um eine Ausstellung zu besuchen; auf Lyles Boot machten sie Ausflüge auf dem Fluss. Hin und wieder folgten sie Andrews Vorschlag und spielten alle vier Bridge, aber Ruth, die nie gut Karten gespielt hatte, fand es fast unmöglich zu ermitteln, wer die restlichen Trümpfe in der Hand hielt.
    »Ist doch egal«, seufzte Andrew immer, wenn sie zum x-ten Mal im Hintertreffen waren. »Ist doch nur ein Spiel.«
    Nach Heathers Tod hatte sie mit dem Malen aufgehört, und als sie zum Ansporn ein Sortiment Ölfarben kaufte und es aufs Neue versuchte, brachte sie nur absolut langweilige Stillleben zustande. Der Versuch, sich zu befreien und abstrakter zu malen   – im Stil der Gemälde von Joan Mitchell, die sie in Paris gesehen hatte   –, endete katastrophal. Ein Wirrwarr von beziehungslosen Schnörkellinien.
    Also kaufte sie ein, kochte, fuhr Beatrice hierhin und dorthin, kontrollierte ihre Hausaufgaben, wusch und bügelte ihre Kleider, versuchte sich zu beherrschen, wenn ihre Tochter ausrastete oder sich ohne ersichtlichen Grund einem Anfall von schlechter Laune hingab. Sie hörte pflichtschuldig zu, wenn Andrew sich über eine neue Anweisung von oben beschwerte: mehr Tests, weniger Tests, Sexualkunde für Schüler unter neun Jahren.
    Das war jetzt ihr Leben   – harmonisch, wenn auch in einer Flaute.
    Sie würde ihr Studium in Bibliotheksmanagement abschließen, im nächsten Sommer die Arbeit in dem Kunstgewerbeladen aufgeben und sich um eine Vollzeitstelle in der Bibliothek bemühen. Das war doch etwas, oder nicht? Etwas, auf das man sich freuen konnte. Es gab Hunderte   – Tausende   – von Menschen, denen es sehr viel schlechter ging als ihr.
     
    Eines Abends saß sie allein da. Sie hatte die Stehlampe eingeschaltet, weil es dunkel wurde, ein aufgeschlagenes Buch lag in ihrem Schoß   – der neue Rose Tremain   –, ein Glas Weißwein stand auf dem Tischchen neben ihr. Beatrice war schon im Bett, Andrew bei einer Sitzung des Schulbeirats. »Warte nicht auf mich, du weißt doch, wie es ist. Das dauert wahrscheinlich Stunden.«
    Plötzlich legte sie ihr Buch zur Seite, ging zum Schränkchen an der anderen Seite des Raumes hinüber und nahm ein Album aus dem untersten Fach, wo es unter ein paar Leinenservietten und Sets lag, einem Geschenk von Andrews Schwester, das sie nie benutzt hatten.
    Es war ein Fotoalbum; die meisten Bilder hatte Simon in den Jahren nach Heathers Geburt aufgenommen. Jede neue Entwicklung war genauestens dokumentiert worden, als sollte sie die Zeit überdauern. In jenen Tagen hatte Simon die Kamera selten aus der Hand gelegt.
    Ruth setzte sich in ihrem Sessel zurück und blätterte die Seiten um. Heather in einem Buggy in Alexandra Palace, ein Teil von Nordlondon in ihrem Rücken. Heather auf der Schaukel, mit einer Hand zeigte sie auf die Kamera, mit der anderen hielt sie sich verzweifelt fest.
    »Das hab ich immer gemocht«, sagte die Stimme hinter Ruth.
    »Ja«, sagte Ruth, nur ein wenig erschreckt. »Ich auch.«
    »Wo ist es? In Highgate Woods? Ich erinnere mich nicht.«
    »Ich glaube ja.«
    »Daddy schubst mich an. Schau, man sieht ein Stück von seiner Hand.«
    »Oh ja.« Ruth hatte es nicht bemerkt.
    Der Atem war warm auf ihrer Wange und in ihrem Nacken, direkt über dem Kragen der Bluse.
    Sie blätterte eine Seite um, aber Heather war nicht mehrda. Nur das Bild, postkartengroß und in Kodachrome: ein kleines Mädchen, das einen Teddybären mit

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