Schrei Aus Der Ferne
Glasaugen im Arm hält. Die Luft im Raum war kalt, als stünde irgendwo eine Tür offen.
»Ach, Heather«, sagte Ruth und schloss die Augen.
Sie öffnete sie erst wieder, als sie hörte, wie Andrew die Haustür aufschloss.
24
Der Sommer ging vorbei. An diesem Morgen hatte Will auf der Fahrt zur Arbeit bemerkt, dass einige Bäume bereits die ersten Blätter abwarfen. Der Tag versprach ruhiger zu werden als üblich, die Dinge normalisierten sich. Langsam bekamen sie die Zahl der unerledigten Fälle unter Kontrolle.
Diese Illusion dauerte bis zum Nachmittag an, als um 16.17 Uhr ein Notruf verzeichnet wurde. Die Stimme des Anrufers war hoch und schrill und schwer zu verstehen, denn der Fünfjährige musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an das Telefon zu kommen, das an der Wand hing.
Als die Frau in der Zentrale schließlich den Sinn der abgerissenen Worte erfasst und die Adresse in Erfahrung gebracht hatte – der Junge sagte sie auswendig auf, ein braves Kind, das gut gelernt hatte –, gab sie ihm so ruhig wie möglich Anweisungen. Er solle bleiben, wo er war, nichts anfassen, überhaupt nichts, es würde sofort jemand kommen und ihm helfen.
Der erste Krankenwagen war nach sieben Minuten an Ort und Stelle, die ersten Polizeiwagen nach zwölf; Will selbst traf ein, als das Gelände um das Haus herum abgesperrt wurde und sich Beamte in Schutzkleidung an die Arbeit machten.
Es war ein freistehendes Haus, dreißig, vielleicht vierzig Jahre alt, Teil einer kleinen, ehemals wohlhabenderen Siedlung, und hatte eine Fassade aus Kieselrauputz, die mitgenommen aussah und zu verblassen begann. Ein Kinderdreirad lag auf dem Kiesweg, der zur Haustür führte. Zwei Kübel mit Geranien, rot und weiß, standen zu beiden Seitender flachen Stufen, und passend dazu hingen darüber aus zwei Blumenampeln Fuchsien und Lobelien üppig nach unten. Die Tür zur Garage an der Seite des Hauses war geschlossen.
Als Will sich näherte, trat ein Beamter heraus, dessen Gesichtsausdruck ihm verriet, dass ihn im Inneren des Hauses nichts Gutes erwartete. Die erste, mehrfach unterbrochene Blutspur zeichnete sich auf dem Parkettboden und an der Wand neben der jetzt offenen Haustür ab. Noch mehr unregelmäßige Blutspritzer hatten sich auf die Treppe und die dazugehörige Wand ergossen, und auf dem Treppengeländer sah Will den Abdruck einer blutigen Hand, die fest zugegriffen hatte.
Aus einem anderen Raum konnte er das untröstliche Schluchzen eines Kindes hören, ein atemloses Klagen, das sich erhob und einhielt, aber niemals endete.
Die Frau lag mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem ersten Treppenabsatz, so wie sie gefallen war. Das blasse Grün ihres Sommerkleides war hier und da dunkel von Blut. Es gab eine Reihe kleinerer Wunden auf der Innenseite ihrer Arme – Abwehrverletzungen, meinte Will – und ihr Hals war brutal durchschnitten worden.
Die Räume in den oberen Stockwerken waren leer, die Betten mit besonderer Sorgfalt gemacht. Im Zimmer des Jungen standen die Bücher auf Regalen, die Spielzeuge waren gestapelt und ordentlich weggestellt. Zusammen mit seinem Schlafanzug lag der Bademantel gefaltet am Fußende des schmalen Betts.
Den Mann fanden sie in der Garage – aufgehängt. Ein langes Stück Isolierdraht war über den mittleren Balken geschlungen und befestigt worden. Nachdem der Hocker weggestoßen worden war, hatte die Fallhöhe gerade ausgereicht. An seinen Händen war Blut und in seinem Gesichtund in seinen Haaren war Blut und auch an dem Seil, wo er es geknotet und festgezogen hatte. Ein blutverschmiertes Küchenmesser mit breiter Klinge lag auf dem Zementboden. Die Art Messer, mit der man Sonntagsbraten schnitt, Schweinelende oder Lammkeule oder Rinderhaxe, ausgebeint und gerollt.
Was ist hier geschehen?, fragte sich Will. Ein Mann fällt in Raserei über seine Frau her, tötet sie und dann sich selbst. War es ein Anfall von Eifersucht gewesen? War er verrückt geworden? Wollte sie ihn verlassen? Hatte sie eine Affäre? Wollte sie ihn verlassen und hatte gedroht, den gemeinsamen Sohn mitzunehmen, das einzige Kind, geboren, als sie wie alt war? Mitte dreißig? Beide waren nicht mehr blutjung.
Also ein Verbrechen aus Leidenschaft.
Will dachte an das Gesicht der Frau zurück, aus dem alle Farbe verschwunden war: erschöpfte Leidenschaft.
Paul und Linda Carey, einundvierzig und neununddreißig Jahre alt.
Normale Menschen, ein normales Leben.
Es sollte noch einen Tag dauern,
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