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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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zusammen, setzte Prioritäten, trieb die Überstunden bis an die akzeptierte Grenze und manchmal darüber hinaus. Er arbeitete lange, länger als üblich, machte doppelte Schichten und kam ungeduldig und gereizt nach Hause, bedachte die Kinder grundlos und zu oft mit harten Worten, war zu müde zum Essen, zu müde, um Erklärungen abzugeben.
    Und während der ganzen Zeit flackerte immer wieder das Bild von Mitchell Roberts vor ihm auf, als hätte er ein störendes Sandkorn im Auge.
Die Kriminalpolizei war nicht so
gewieft, wie sie hätte sein können
, hatte Liam Noble gesagt und damit den Ball direkt in Wills Feld gespielt. Damals hatte es nicht die Zeit und die Mittel gegeben, um sich ordentlich auf Roberts zu konzentrieren, und heute gab es sie auch nicht. Nachts machte er sich Sorgen und wälzte sich im Bett herum, und wenn er schließlich immer noch erschöpft aufwachte, geschah das meist mit einem Hämmern im Kopf.
    »So kann es nicht weitergehen«, sagte Lorraine eines Morgens und schob Susie von der einen Hüfte auf die andere. »Es muss sich etwas ändern.«
    Nichts änderte sich.
    Sie fuhr mit Jake und Susie zu ihren Eltern nach Saffron Walden. »Nur für eine Woche, Will, damit wir alle mal eine Pause machen können. Das gibt dir etwas mehr Luft. Höchstens zehn Tage.«
    Bei ihren Eltern standen Lufterfrischer in jedem Raum, der Toilettendeckel hatte eine gestrickte Hülle und es gab Fertiggerichte von Waitrose. Nach drei Tagen kehrte Lorraine allein zurück und ließ die Kinder bei den Großeltern, wo sie maßlos verwöhnt wurden.
    Sie und Will gingen zum Abendessen in die alte Feuerwache in Ely und nahmen hin und zurück ein Taxi. Selleriesuppe mit Stilton, in Portwein und Guinness geschmortes Rindfleisch mit Schalotten, eine Flasche Côtes du Rhône. Am Ende hatte Will nur noch Platz für eine Portion altmodischen Pudding.
    Er öffnete eine zweite Flasche Wein, als sie zu Hause waren, und sie setzten sich bei geöffneten Fenstern auf die Veranda und hörten Lorraines alte CD von den Cowboy Junkies; am Ende liebten sie sich direkt dort auf den versiegelten Dielen. Lorraines Rock war hoch über die Taille gerutscht, alle beide waren sie halb nackt, und nur ein vorbeikommender Fuchs sah desinteressiert zu.

23
     
    Ruth fand die Hitze erdrückend. Sie ging dazu über, weite Leinenkleider und weiche Hüte mit breiter Krempe zu tragen, und ein wenig traurig erkannte sie, dass sie darin aussah wie eine Figur von Katherine Mansfield oder Virginia Woolf: eine leicht exzentrische unverheiratete Tante, die immer wieder an den Rändern der Geschichte auftaucht und von der Erinnerung an einen schönen jungen Mann heimgesucht wird, der in den Krieg gezogen und nie zurückgekehrt ist. Ruth hatte eine Vision von sich selbst, wie sie umgeben von einer Horde Neffen und Nichten saure Limonade trank: erst bemitleidet und dann ignoriert.
    Sie schreibt Gedichte, dachte Ruth, diese andere Version meiner selbst: Lyrik im Stil eines Walter de la Mare oder Rupert Brooke. Sie gärtnert oder hält Bienen. Ruth gefiel die Idee, Bienen zu halten.
    Da sie ›Das Gartenfest‹ in der alten Penguin-Ausgabe, die sie einmal besessen hatte, nirgendwo finden konnte, suchte sie Katherine Mansfield in den Regalen der Bibliothek heraus, in der sie arbeitete. Doch die Geschichten von so vielen unvollendeten und unerfüllten Leben machten sie krank. Nach einer Weile wandte sie sich daher Virginia Woolf zu, aber in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand war das nicht unbedingt eine Verbesserung. Mrs Dalloway, die sich an den Rand der Erschöpfung bringt, um etwas in Wirklichkeit ganz Banales zu erreichen: die perfekte Abendgesellschaft. Welche Messer, welche Gläser, wer sitzt wo? Mrs Ramsay, die sich abmüht, Augenblicke einzufangen wie Leuchtkäfer, die man in einem Glas aufbewahren und herunternehmenund betrachten kann, als würde darin der Sinn des Lebens offenbar.
    Wir gingen unter, jeder für sich allein.
    Kein Wunder, dass Woolf ihre Taschen mit Steinen gefüllt hatte und ins Wasser der Ouse gegangen war, um zu sterben.
    Jeder für sich allein

    Ruth glaubte das zu verstehen.
    Nach Heathers Tod hatte es Zeiten gegeben, in denen ihr der Selbstmord die einzige Möglichkeit zu sein schien. Die verlockende Schwärze, die sie von allem Schmerz befreien würde.
    Auf sehr einfache Weise hatte sie sich selbst immer als Christin gesehen, die nicht nur an die Lehren der Religion glaubte, sondern auch, dass irgendwo ein Gott existierte. Ein Gott,

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