Schrei Aus Der Ferne
sonst, der arme Kerl. Vielleicht kommt dieses Zeug im Internet – ich vermute, darum geht es – seinen Bedürfnissen deshalb entgegen.« Lächelnd drückte er ihre Hand. »Für dich ist es anders. Du hast ja mich.«
33
Will hatte den größten Teil des Vormittags hinter geschlossenen Türen mit dem Chief Superintendent und anderen leitenden Beamten verbracht und die Überwachung der zunehmend vielfältigen ethnischen Gruppen in der Grafschaft diskutiert. Nach einer kurzen Stagnation stiegen die Zahlen der Asylbewerber und Arbeitsmigranten kontinuierlich an: Schon spitzten sich in bestimmten Gegenden die Spannungen zu, zuletzt in Huntingdon, wo es zwischen polnischen und westafrikanischen Gruppen zu beunruhigend häufigen und gewaltsamen Zusammenstößen gekommen war.
Beinahe vier Stunden später, als Will schließlich nach den Präsentationen sowohl der Arbeitsgruppe zur Steuerung der ethnischen Vielfalt als auch der Arbeitsgruppe für regionale Immigration, Asyl und Arbeitsmigration aus dem Sitzungsraum stolperte, war seine Zunge pelzig von zu vielen Tassen Instantkaffee und sein Kopf benommen von einem Übermaß an Spiegelstrichen, Tortendiagrammen und wohlmeinender Vernebelung.
Er rief Helen an, aber aus irgendeinem Grund war ihr Handy ausgeschaltet. Der Himmel, der am Morgen so vielversprechend ausgesehen hatte, hatte nur noch einen kümmerlichen grauen Schleier zu bieten. Auf seinem Schreibtisch lagen weitere Papiere, um die er sich kümmern musste, Zielevaluationen, Berichte und ein Fall, der demnächst vor Gericht kam. Vorsichtig steuerte er den Astra aus dem überfüllten Parkplatz und fuhr nach Norden.
Er hatte Fotos von der elfjährigen Christine Fell gesehen: ein gertenschlankes Mädchen in Schuluniform, das mitdunklen Augen optimistisch in die Kamera lächelte und das Leben vor sich hatte. Die Bilder, die nach der Entführung aufgenommen worden waren, hatten etwas anderes gezeigt: Angst, ein Rest von Schmerz, die Kenntnis von Dingen, die sie weder hätte sehen noch wissen sollen.
Wie groß war die Chance, dass er sie jetzt erkennen würde?
Es gab mehr Charity Shops auf der Hauptstraße, als er in Erinnerung hatte, und in jedem wurde die gleiche nachlässig arrangierte Mischung aus abgelegter Kleidung, aussortierten Büchern und CDs, unerwünschten Videos und Nippsachen angeboten. Will ging langsam die Straße entlang und spähte durch Schaufenster, weil er hoffte, sie zu entdecken. Und dann sah er sie – sie musste es sein. Unauffällig in gedämpfte Farben gekleidet, stand sie mit niedergeschlagenen Augen neben einem Ständer, auf dem Strickjacken und Mäntel aus Lederimitat hingen. Sie war groß gewachsen, wie es die frühen Fotos vermuten ließen, aber durch die Art, wie sie mit gekrümmten Schultern dastand, verbarg sie ihre Größe, so gut sie konnte.
Will sah, dass eine Kundin eine Frage an sie stellte. Sie schien zusammenzuzucken, dann wandte sie den Kopf halb ab, bevor sie antwortete. Will meinte zu erkennen, dass sie sehr leise sprach. Mit einem Kopfschütteln ging die Kundin weiter, um sich anderswo helfen zu lassen, und Christine blieb zurück, rang die Hände und beschwor den Boden, sie zu verschlucken.
Will drückte die Tür auf und trat ein.
Interesse vortäuschend, fuhr er mit einem Finger an einem Regal voller Taschenbücher entlang: Desmond Bagley, James Patterson, Anita Shreve; mehrere Exemplare von ›Bridget Jones: Schokolade zum Frühstück‹. Lorraine hatte ihm die besten Stellen daraus im Bett vorgelesen.
In ihrem weiten Pullover – mindestens eine Größe zu groß – und dem zu langen Rock hatte sich Christine Fell zum Kassentisch im hinteren Teil des Ladens begeben.
Spielsachen und Spiele waren planlos neben den Büchern gestapelt, und Will ging in die Hocke, spielte mit dem Gedanken an ein Puzzle für Jake und dann an einen kleinen braunen Teddy mit nur einem Ohr für Susie. Der Nachteil bei einem Puzzle war, dass man nicht wissen konnte, ob vielleicht wichtige Teile fehlten. Nach etwas Herumsuchen in einer Plastikkiste fand er ein Matchbox-Auto für Jake, einen roten Jaguar XK, der nur einen einzigen Kratzer auf der Motorhaube hatte.
»Wie viel kostet das?«, fragte er an der Kasse. Christine Fell sah nur einen Augenblick auf, dann nahm sie ihm erst den Bären, dann das Auto aus der Hand und legte die Sachen hin, ohne ihn direkt anzusehen. Ihre Nägel waren bis aufs Nagelbett abgekaut, wie er sah.
»Ich weiß nicht genau«, sagte sie leise.
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