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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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sagte aber nichts.
    Sie ist süß, Ruth. Sehr süß.
Mit einem Lächeln in den Augen.

36
     
    Den ganzen Abend hatte Lorraine den Text von ›I Got You, Babe‹ gesungen. Nicht den ganzen Text, nur Bruchstücke, einzelne Verse, die eine oder andere Zeile. So ein bescheuertes Lied! Sie hatte das Original nie gehört, jedenfalls nicht zu der Zeit. Sonny und Cher, die hatten das doch gesungen? Zehn Jahre, bevor sie geboren wurde.
    »He!«, sagte Will, der oben gewesen war und in die Küche kam.
    »Was?«
    »Was machst du da?«
    »Nichts, warum?«
    »Du stehst da und starrst ins Leere.«
    »Ich habe nachgedacht.«
    »Worüber?«
    »Tut nichts zur Sache.«
    Will zuckte die Achseln. »Susie hat wieder in die Windel gemacht.«
    »Unsere Schuld, weil wir ihr so kurz vorm Schlafengehen noch was zu trinken gegeben haben.«
    »Willst du was?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich weiß nicht. Tee, Kaffee, etwas Stärkeres.«
    »Stärkeres?«
    »Ich könnte eine Flasche Wein aufmachen. Und im Kühlschrank ist Bier.«
    »Nicht für mich. Aber nimm du ruhig eins.«
    Er nahm eine Dose Carlsberg heraus, goss etwas davon   – weniger als die Hälfte   – in ein Glas, wischte mit dem Handballenüber die Öffnung, trank einen Schluck direkt aus der Dose und reichte Lorraine das Glas. »Wir teilen es uns, okay?«
    »Klar.«
    Was Lorraine wirklich wollte, war ein Joint, etwas zum Entspannen, bevor sie zu Bett ging, damit sie besser schlief.
    »Willst du dich hinsetzen?«, fragte Will.
    »Warum nicht?«
    Das Wohnzimmer war dunkel, nur ein schwaches Licht drang von draußen herein. Die Vorhänge waren geöffnet, vor dem Fenster lagen der Garten und dahinter die Felder. Keiner von beiden machte das Licht an. Sie setzten sich auf das Sofa, Lorraine streifte ihre Hausschuhe ab, schwang ihre Beine herum und legte ihre Füße in seinen Schoß.
    Als er begann, ihre Füße zu streicheln   – nicht ganz eine Massage, nicht direkt   –, lehnte sie sich weiter zurück und schloss die Augen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon geschlafen hatte, aber sie wurde ruckartig wach, als er damit aufhörte.
    »Gehen wir zu Bett?«
    Sie streckte eine Hand aus und er zog sie hoch.
    »Ist Helen eigentlich immer noch mit diesem Mann zusammen?«, wollte sie wissen.
    »Warum fragst du das so plötzlich?«
    »Keine Ahnung. Ist sie?«
    »Declan? Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Er zuckte die Achseln. »Zumindest ist sie in letzter Zeit nicht mit blauen Flecken zur Arbeit gekommen.«
    »Es ist nicht witzig.«
    »Hab ich auch nie gesagt.«
    Er zeigte auf das Glas auf dem Boden. »Trinkst du das noch aus?«
    Lorraine schüttelte den Kopf.
    Er trank den Rest Bier, trug das Glas zur Spüle und wusch es unter dem Wasserhahn aus.
    »Ist die Tür abgeschlossen?«, fragte Lorraine.
    »Verrammelt und verriegelt.«
    Als er hinter ihr die Treppe hinaufstieg, zog er ihr die Bluse aus der Jeans, senkte den Kopf und küsste die weiche Haut in ihrem Kreuz.
    »Wofür ist das?«, fragte Lorraine überrascht.
    »Für später«, sagte Will und lächelte.
     
    Helen hatte sich spät mit Declan im »Horse and Feathers« verabredet, einem großen Pub an der Ringstraße, ungefähr fünfzehn Autominuten von dem Haus entfernt, das er trotz einer Unzahl von leidenschaftlichen Versprechen immer noch mit seiner Frau und zwei Kindern   – eines von ihm, eines von ihr   – teilte. Es gab noch weitere Kinder, das wusste Helen, und weitere Mütter, einige davon offiziell, andere nicht.
    Sie kam ein bisschen spät an und rechnete fest damit, dass Declan bereits da und an der Bar in Aktion wäre. Die junge Bedienung, eine Studentin, die zweifellos ihre Kasse aufbesserte, legte ihr Buch für einen Augenblick beiseite, um Helen einen großen Gin Tonic zu machen.
    Schräg über ihrem Kopf lief ein Riesenfernseher. Zwei Spielautomaten an der hinteren Wand schickten Lichtblitze über die schäbige Einrichtung.
    Ein Mann und eine Frau mittleren Alters saßen an einem Tisch an der Seite und ignorierten einander. Er trug ein Sportsakko mit Krawatte und zog den Genuss seines Pints in die Länge; die Frau hatte etwas vor sich stehen, das wie ein Snowball aussah, von dem sie aber kaum etwas getrunken hatte.
    Noch fünf Minuten, dachte Helen, dann würde sie esriskieren, Declan auf seinem Handy anzurufen, um herauszufinden, was zum Teufel los war. Bevor es dazu kam, rief er selbst an.
    »Helen?«
    »Ja?«
    »Bist du im ›Horse and Feathers‹?«
    »Ja, aber ich warte ja erst seit einer halben

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