Schrei Aus Der Ferne
dem Fahrrad, wie sie wild in die Pedale trat. Beatrice in Nahaufnahme, den Kopf zur Kamera gewandt wie als Reaktion auf das Klicken des Auslösers oder jemanden, der ihren Namen rief.
Alle Fotos waren anscheinend in den letzten paar Monaten aufgenommen worden.
Nicht einmal das. Vor Kurzem.
Unter dem letzten Bild eine einzige getippte Zeile.
Ist sie nicht süß?
Ruth glaubte, ihr würde schlecht.
Eine ganze Weile saß sie bewegungslos da. Sie hatte den Kopf in die Hände gelegt und sah nicht auf den Bildschirm.
Als sich ihre Atmung beruhigt hatte, scrollte sie schnell zum Anfang der Mail und suchte nach dem Namen des Absenders. Eine Mischung aus Buchstaben und Zahlen ohne offenkundige Bedeutung. Hastig klickte sie auf »Antworten«, schrieb:
Wer sind Sie?
, und bewegte die Maus zu »Senden«.
Während sie wartete, drehte sich ihr der Magen um.
Nichts passierte.
Sie schaltete aus, griff nach dem Telefon, tippte Andrews Handynummer ein, und als er nicht antwortete, hinterließ sie die Nachricht, er möge sie so schnell wie möglich zurückrufen.
Unter Qualen wartete sie, bis sie das Auto hörte, und riss die Haustür auf. Andrew kam mit der Aktentasche in der Hand den Weg herauf und lächelte; Beatrice trug ihren Flötenkasten und trödelte ein paar Schritte hinterher.
Ruth warf sich Andrew entgegen, legte die Arme um seinen Hals und weinte.
»Ruth, Ruth. Was ist denn los? Was ist passiert?«
»Mum!« Beatrice sah erschrocken zu.
»Ruth, was in aller Welt ist passiert?«
»Nichts. Nichts. Gar nichts.« Sie weinte noch, lächelte jetzt aber unter Tränen und trat zurück. »Ich erzähle es dir später. Ich bin nur ein bisschen kindisch, das ist alles. Wahrscheinlich die Hormone.« Sie fand ein Papiertaschentuch und tupfte sich das Gesicht ab. »Kommt, lasst uns reingehen.«
Es war kurz nach zehn. Beatrice lag im Bett und schlief. Normalerweise hätten sie den Fernseher eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen, zumindest die wichtigsten, aberan diesem Abend hatte keiner von beiden Anstalten dazu gemacht, und die Fernbedienung lag unbenutzt auf Andrews Sessellehne. Ruth saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa, auf dem kleinen Tisch neben ihr stand ein Glas Wein, fast unberührt. Als Beatrice ins Bett gegangen war – recht früh für ihre Verhältnisse –, hatte Andrew sich einen Scotch mit Wasser gemacht und eine CD eingelegt, Klaviermusik, Händel, nichts allzu Schweres. Nach einer Weile hatte Ruth ihn gebeten, die Musik abzustellen.
Die E-Mail , die sie abgeschickt hatte, war zurückgekommen. Auch bei einem zweiten Versuch.
»Bist du sicher, dass wir nicht die Polizei anrufen sollen?«, fragte Ruth.
»Und was sollen wir ihnen sagen? Jemand hat dir eine E-Mail mit Bildern von unserer Tochter geschickt?«
Ruth seufzte und zog die Beine fester unter sich.
»Ach, weißt du«, sagte Andrew ein paar Augenblicke später, »es gibt wahrscheinlich eine völlig unschuldige Erklärung.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Ich meine, es sind schließlich nur Bilder. Vollkommen normale Bilder. Es ist nicht so, als wäre da etwas – du weißt schon – etwas Komisches …«
Ruth sah ihn an. »Komisch?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Sag das nicht die ganze Zeit. Du sagst das immer wieder. Weißt du, du weißt schon, als ob … als ob es so wäre. Aber wir wissen gar nichts.«
Andrew stand auf, um sein Glas neu zu füllen.
»Weißt du …«
Ruth warf ihm einen verärgerten Blick zu.
»Tut mir leid, aber weißt du, was ich gerade gedacht habe? Lyle.«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat sich doch vor Kurzem eine von diesen neuen Kameras gekauft. Eine digitale Spiegelreflexkamera. Nikon. Mit einem supertollen Objektiv. Hat ihn ganz schön was gekostet. Ich wette, das ist es. Lyle hat seine neue Kamera ausprobiert.«
»Indem er Fotos von Beatrice gemacht hat?«
»Natürlich.«
»Aber warum?«
»Um uns zu überraschen.«
Ruth schüttelte ungläubig den Kopf.
»Er will bestimmt damit angeben. Ich ruf ihn an. Jetzt gleich.«
Aber es war nicht Lyle gewesen. Klar, er hatte eine neue Kamera. D60. Zehn Millionen Pixel. Fantastisch. Aber Beatrice? Nein. Ganz bestimmt nicht.
Andrew stand mitten im Raum, das Glas in der Hand, und lauschte auf die Stille im Haus. »Ich hätte es schwören können«, sagte er nach einem Augenblick. Und dann: »Aber wer könnte es sonst sein? Wer in aller Welt?«
Ruth legte die Arme um die Knie und zog sie an die Brust. Sie dachte an Simon,
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