Schrei Aus Der Ferne
der Wind sein. Wenn sie hinaufging und das Fenster schloss, würde es aufhören.
Trotzdem zögerte sie. Mehrere Kleidungsstücke von Beatrice lagen achtlos hingeworfen auf der Treppe – das war keineswegs ungewöhnlich – und sie bückte sich, um sie aufzuheben: eine Hose, ein T-Shirt , eine einsame Socke.
Die Tür zu Beatrices Zimmer war geschlossen.
Mein Zimmer
, hieß es auf dem mit der Hand geschriebenen Schild.
Privat! Zutritt verboten!
Ruth trat ein und schaltete das Licht an.
Alles war so, wie sie es das letzte Mal gesehen hatte: eine Mischung aus peinlicher Ordnung und völligem Chaos. Die zwei Seiten des Charakters ihrer Tochter. Einen Augenblick lang lächelte sie.
Das Schiebefenster stand unten einen Spalt offen, wie sie vermutet hatte, die Vorhänge bewegten sich ein wenig im Wind, das Fenster selbst klapperte am Rahmen. Das war es, was sie gehört hatte. Das und die Tür.
Als sie das Fenster nach unten zog, huschte eine Sekunde lang etwas über die verschattete Scheibe, bewegte sich schnell hinter ihrem Kopf.
»Mum?«
Ruth stockte für einen Moment der Atem.
Als sie sich umdrehte, stand Heather neben dem Bett und hielt eines der kleinen Stofftiere in der Hand, die immer noch um Beatrices Kissen verstreut lagen.
»Das hat mal mir gehört«, sagte Heather.
»Ich weiß.«
»Und jetzt gehört es Beatrice.«
»Ja.«
Heather hielt es sich an die Wange, es war weich und abgegriffen, ein schwarzweißer Hund mit verschlissenem Fell und nur noch einem Knopfauge. »Sie wird nicht mehr lange damit spielen.«
»Was soll das heißen?«
»Du weißt schon. Sie wird erwachsen.« Sie lächelte. »Wächst über solchen Kinderkram hinaus.«
Ruth nahm ihr den Stoffhund aus der Hand. Lucky, so hatte Heather ihn genannt. Lucky.
»Vor ein paar Minuten habe ich geglaubt, ich hätte jemanden gehört, der hier herumläuft«, sagte Ruth. »Warst du das? Warst du hier?«
»Ich bin immer hier, Mum, das weißt du doch. Du siehst mich nur nicht immer.«
»Heather …« Aber als Ruth einen Schritt auf sie zu machte, war sie fort. Da war nur noch der kleine Hund, den sie selbst in der Hand hielt.
Sie setzte ihn aufs Bett, schaltete das Licht aus und zog die Tür fest hinter sich zu.
Andrew würde irgendwann zurückkommen, und bis dahin würde sie Musik hören, dabei Patiencen legen und versuchen, nicht zu oft auf die Uhr zu sehen.
Als Beatrice kurz nach elf am nächsten Morgen nach Hause kam, umarmte Ruth sie und hielt sie ganz fest.
»Mum! Mum! Du erdrückst mich ja.«
»Tut mir leid, tut mir leid. Ich freue mich so, dich zu sehen, das ist alles.«
»Aber du tust, als wäre ich zwei Wochen lang weg gewesen. Bleib cool, okay?«
»Ja.« Sie war sich bewusst, dass sich auf ihrem Gesicht ein blödes Lächeln ausgebreitet hatte. »Habt ihr euch gut amüsiert, du und Sasha?«
»Ja, prima.«
»Erzähl es mir, erzähl mir alles.«
»Mum …«
»Ich interessiere mich dafür, das ist alles. Ist das denn so schlimm?«
»Hallo? Woanders übernachten, lange aufbleiben, Videos anschauen, mitten in der Nacht was essen, quatschen. Wenn Mädchen quatschen. Erinnerst du dich?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Das ist hart, Mum. Jetzt ist es zu spät.« Und damit verschwand sie nach oben in ihr Zimmer, nur um ein paar Minuten später zurückzukommen. Kurz davor, beleidigt zu sein.
»Mum, warst du oben in meinem Zimmer, als ich bei Sasha war?«
»Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Nein, warum fragst du?« Sie hoffte, dass sie nicht erröten würde.
»Egal.«
»Beatrice …«
»Nein, ist okay.«
Drei Tage später, als sie längst fertig für die Schule sein sollte, rief Beatrice von oben herunter.
»Mum! Hast du mein neues Oberteil gesehen?«
Ruth, die gerade Butter auf ihren Toast strich, sah auf. »Dein neues was?«
»Meinen Pulli.«
»Welchen?«
»Den wir in Cambridge gekauft haben. Der mit den Streifen. Schwarz und golden.«
»Das ist doch der, in dem du wie eine Biene aussiehst.«
»Ich finde ihn nirgends.«
»Hast du im Wäschekorb nachgesehen?«
»Da ist er nicht.«
»Was ist mit der Bügelwäsche?«
»Da hab ich auch schon geschaut.«
»Beatrice, ich weiß nicht. Er ist wahrscheinlich irgendwo in deinem Zimmer.«
»War er auch. Aber jetzt nicht mehr.«
»Wenn du deine Sachen ordentlicher wegräumen würdest …«
»Mum, ich suche schon seit einer halben Stunde.«
»Tut mir sehr leid, aber ich kann dir nicht helfen. Warum ist es überhaupt so wichtig?«
»Weil ich ihn
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