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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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anziehen will, was sonst?«
    »Bitte, Beatrice, zieh einfach etwas anderes an. Und beeil dich, sonst kommst du zu spät.«
    Beatrice fluchte leise vor sich hin. »Ist gut, Mum, ich komme schon.«

41
     
    Liam Noble war gut dreißig Minuten später als normal zur Arbeit gekommen, ohne dass ein Umstand allein dafür verantwortlich war: Sicher, der Verkehr hatte ihn aufgehalten, weil ein Lastwagen seine Ladung über zwei Fahrspuren verteilt hatte; da waren auch seine Kinder, der Mittlere war nämlich ausgerastet, weil am Vortag irgendetwas in der Klasse vorgefallen war   – weder er noch seine Frau hatten genaue Einzelheiten herausbekommen   –, und der Junge hatte sich schlicht geweigert, zur Schule zu gehen, und sich so fest ans Treppengeländer geklammert, dass sie seine Finger einzeln aufbiegen mussten; und als wäre das noch nicht genug, waren auch noch alle seine drei Hemden dunkelbraun gesprenkelt aus dem Wäschetrockner gekommen. Jetzt war er endlich da, wohl wissend, dass er den Tag verspätet begann und ein uraltes Baumwollhemd trug, dessen Kragen und Manschetten abgewetzt waren und das er normalerweise anzog, wenn er im Garten vor sich hin werkelte. Das Erste, was er sah, war Will Grayson, der mit kaum verhohlener Wut im Gesicht auf ihn wartete.
    Er begann schon, bevor Noble überhaupt Zeit hatte, seinen Mantel auszuziehen oder die Tür zu schließen. Es hagelte nur so von Vorwürfen, als da waren Inkompetenz, gepaart mit blauäugigem Optimismus und der Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
    »Ist ja gut, ist ja gut. Ich sagte: Ist ja gut!« Noble kam dem Schreien so nahe, wie es von ihm überhaupt zu erwarten war. »Mitchell Roberts, ich weiß, ich weiß. Es scheint, dass Sie recht hatten und ich mich geirrt habe. Da wir uns jetztdarüber einig sind, können wir vielleicht auf die Wortgefechte verzichten und feststellen, was wir tun können, um die Situation in Ordnung zu bringen?«
    »Und das ist es dann?« Will warf ungläubig seine Arme in die Luft. »Ein hübsches kleines Schuldeingeständnis und wir ziehen einen Schlussstrich unter alles? Das reicht mir nicht.«
    »Nein? Was denn dann, Will? Soll ich ordentlich zu Kreuze kriechen, würde Ihnen das genügen? Vorzugsweise in der Öffentlichkeit und auf den Knien? Oder vielleicht wollen Sie mehr? Dass ich den Rest meiner Zeit bei der Polizei damit verbringe, Kaffeelöffel zu zählen und Vorträge über die Straßenverkehrsordnung zu halten? Nein? Also ein Rücktritt? Ist es das? Soll ich symbolisch Selbstmord begehen? Meinem Namen Ehre machen und mich nobel verhalten? Sie und Ihre Leute gehen auch nicht gerade fleckenlos aus dieser Sache hervor, wissen Sie.«
    Damit war der Sache der Stachel genommen und Will zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und wartete darauf, dass Noble es ebenfalls tat.
    »Ich bin einigermaßen im Bilde«, sagte Noble. »Kenne die Grundzüge. Seine Bewährungshelferin hat mich zu Hause angerufen. Die Sache mit der Adresse ist völlig in die Hose gegangen, das ist gar nicht zu leugnen. Einer von uns hätte das sofort überprüfen müssen.« Er stieß einen kurzen, tief empfundenen Seufzer aus. »Am besten, Sie erzählen mir den Rest.«
    Will breitete die Erkenntnisse aus: Eine eindeutige Identifizierung verwies auf Roberts als Verantwortlichen für die Entführung und Vergewaltigung einer Zwölfjährigen im Jahre 1995, außerdem bestand die ernst zu nehmende Möglichkeit, dass er bereits 1993 und 2000 in zwei ganz ähnliche Vorfälle verwickelt gewesen war.
    Will erzählte Noble von seiner Begegnung mit Christine Fell, von ihrer psychischen Verfassung und ihrer Reaktion auf die Fotos.
    »Und der frühere Fall? Peterborough?«
    »Rose Howard. Dafür würde ich allerdings nicht meine Hand ins Feuer legen. Die Umstände der Entführung sind ähnlich, aber weil das Mädchen nie wieder aufgetaucht ist, gibt es zu viel, das wir nicht wissen.«
    »Von Peterborough nach London, das sind nicht mehr als ein paar Mitfahrgelegenheiten auf der A1 nach Süden. Sie wäre jetzt Ende zwanzig und könnte immer noch dort sein und ihr Leben leben.«
    »Und sie hat nie zu Hause angerufen, nie ein Lebenszeichen gegeben?«
    »Das passiert.«
    Will wusste das. Wusste, wie viele hundert Personen jedes Jahr einfach weggingen und nie zurückkamen, die Grenze zu einem anderen Leben überschritten. Was er durch die Lektüre der Akte über Rose Howards häusliches Leben in Erfahrung gebracht hatte, klang nicht gerade nach glücklicher Familie. Eine

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