Schrei Aus Der Ferne
überhaupt nichts Außergewöhnliches gegeben. Beatrice hatte nichts über Streitigkeiten zu Hause gesagt, nichts über irgendwelche Pläne nach der Musikstunde, außer dass sie wie üblich von ihrem Vater abgeholt werden würde. Sie hatte auch keinen heimlichen Freund, jedenfalls keinen, dessen Existenz sie Fiona anvertraut hatte, niemanden, den sie in einem Chatroom im Internet kennengelernt und ihren Eltern verschwiegen hatte.
In der Schule sei alles prima, sagte Fiona, Beatrice kam mit allen gut zurecht: keine großen Fehden, keine Streitigkeiten, keine dramatischen Zerwürfnisse. Sowohl ihre Klassenlehrerin als auch der Schulleiter bestätigten das: Beatrice war begabt, gelegentlich etwas patzig, aber meistens interessiert und begeistert; sie war beliebt bei den anderen Mädchen, und selbst die Jungen gaben widerstrebend zu, dass sie in Ordnung sei.
Busfahrer, Nachbarn – offenbar hatte niemand etwas gesehen.
»Endlich hat sich die Polizei von Devon und Cornwall gemeldet«, sagte Helen, als sie Will zehn Minuten vor Beginn der Pressekonferenz erwischte. »Die andere Tochter, Heather, das war wirklich ein Unfall. Sie hat sich bei dichtem Nebel auf dem Küstenpfad verlaufen und ist in einem alten Maschinenhaus abgestürzt. Sie wurde erst nach zwei Tagen gefunden.«
»Das arme Kind.«
»Die arme Mutter.«
Will nickte zustimmend und zog die Krawatte gerade. »Wie sehe ich aus?«
»Willst du wirklich, dass ich dir das sage?«
»Wünsch mir Glück.«
47
Cordon kam vom Hafen herauf und der letzte gebrochene Widerschein der untergehenden Sonne fiel weich über seine Schulter. Als der Hund seine Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte, bellte er in träger Erwartung, dann verstummte er. Beim Öffnen der Tür sah Cordon ihn ausgestreckt auf dem Sofa liegen, aber als er seine Hand nach ihm ausstreckte, hob das Tier kaum den Kopf.
»Freu mich auch, dich zu sehen«, sagte Cordon und füllte den Trinknapf mit Wasser.
Bald würden sie einen Spaziergang machen, über die Felder und dann zum Küstenpfad in Richtung Mousehole, und beide würden in der Dämmerung allmählich zu Schatten werden. Aber vorher musste er sich umziehen, sich eine Weile hinsetzen, einen klaren Kopf bekommen, entspannen.
Als Jimmy Lambert schließlich das Handtuch geworfen und sich nach Portugal in eine Apartmentanlage abgesetzt hatte, wo er mit den anderen dort ansässigen Briten Golf spielen und Lügengeschichten austauschen konnte, waren Organisation und Personal seines Dezernats einer strategischen Revision zum Opfer gefallen und Cordon musste feststellen, dass er ins Abseits rationalisiert worden war und jetzt ruhmvolle Arbeit als bürgernaher Polizeibeamter leistete. Seine Aufgabe war es, die Aktivitäten seines Teams zu überwachen, das aus einem Sergeant in Uniform, zwei jungen Police Constables sowie zwei eifrigen Hilfspolizisten bestand. Ihre Rolle war es, sich um kleinere Straftaten und Störungen der öffentlichen Ordnung zu kümmern und auf die wechselnden Bedürfnisse der ländlichen Gemeinde zu reagieren.
Cordons erster instinktiver Gedanke war gewesen, den Schwachsinn nicht mitzumachen und zu gehen, aber dieselbe Sturheit, mit der er sich seinen Vorgesetzen so oft widersetzt hatte, erlaubte ihm nicht, ihnen diese Befriedigung zu gönnen.
Er blieb.
Er machte seine Arbeit und zum Teufel damit, was sie denken mochten, diese Beamten, die jünger und weniger erfahren waren als er und die ihre Karrieren auf viel beachteten Fällen aufbauten. Wenn sich ihre Pfade einmal kreuzten, was selten passierte, durchbohrten sie ihn mit ihren selbstgefälligen Blicken: den schrulligen Alten, der das Gnadenbrot bekam.
Cordon goss sich ein kleines Glas Scotch ein und stellte die Stereoanlage an. Als er sich zurücklehnte, ergoss sich der Klang in den Raum und erfüllte ihn. Plötzlich fiel ihm Letitia wieder ein
Auf dem Heimweg von einer nächtlichen Tour durch die Clubs und unter dem Einfluss von zu vielen Pillen und zu viel Alkohol hatte sie um vier Uhr morgens seine Tür aufgeschlossen und war in sein Bett gekrochen, aus dem er sie nach einem kleinen Gerangel wieder hinausgeschubst hatte. Das war ihm gar nicht leichtgefallen, denn wie die meisten anderen Männer auch wurde Cordon besonders zu dieser Stunde mehr von seinem Schwanz regiert, als er gerne zugab.
Er wusste, dass andere ihn einen Dummkopf genannt hätten; schließlich war sie kein Kind mehr, ganz im Gegenteil, aber er wusste auch, dass er nach bestem Wissen und
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