Schrei Aus Der Ferne
Namen.
Noch ein Zug und dann würde ihr Herz brechen.
46
»Nicht zu glauben«, sagte Helen.
»Ich weiß.«
»Die arme Frau. Kein Wunder, dass sie in einem solchen Zustand ist.«
Will nickte. Wirklich kein Wunder. Erst die eine Tochter, dann die andere. Helen hatte recht, es war einfach unglaublich.
Sie hatten nicht weit vom Haus eine Tankstelle gefunden, die die ganze Nacht geöffnet hatte, und sich aus einem Automaten Kaffee geholt, den sie jetzt in Helens Wagen tranken. Die Fenster waren heruntergelassen, weil sie rauchte. Der Kaffee war abgestanden und bitter, aber sie tranken ihn trotzdem.
»Die andere Tochter hieß Heather?«, fragte Helen.
»Ja.«
»Derselbe Vater oder …?«
»Ein anderer. Sie hat noch einmal geheiratet.«
»Und das war vor dreizehn oder vierzehn Jahren?«
»1995. Sommer ’95.«
»Sie ist in einen Minenschacht gefallen, hat diese Catriona gesagt?«
»So etwas muss es gewesen sein, ja. Sie wusste es nicht ganz genau.«
»Aber es war ein Unfall?«
»Offenbar. Wir erfahren die Einzelheiten morgen.«
Helen lächelte matt. »Heute.«
Der Himmel wurde schon heller, die ersten roten und orangefarbenen Streifen erschienen über dem Licht, das von Straßenlaternenund Leuchtzeichen herrührte. Helen warf ihren Zigarettenstummel in den restlichen Kaffee und es zischte.
»Sobald sie geboren sind, denkst du an so etwas«, sagte Will. »Fast schon, wenn du sie das erste Mal hältst. Alles ist so … so verdammt zerbrechlich. Du bekommst schreckliche Angst. Dass ihnen etwas passiert. Dass dir etwas passiert.«
Ein anderes Auto, das an den Zapfsäulen hielt, lenkte ihn ab und er sah aus dem Fenster.
»Ich erinnere mich, dass ich Jake einmal im Buggy ausgefahren habe. Es war, bevor wir umgezogen sind. Wir waren nur im Park, einem kleinen Park ganz in der Nähe unseres Hauses, und als ich ihn schob, dachte ich, wenn mir jetzt etwas passiert – ich weiß nicht, was, ein Herzinfarkt oder so –, bleibt er ganz allein hier zurück, festgeschnallt, und keiner kennt ihn. Keiner weiß, wer er ist oder sonst etwas.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das war natürlich dumm, total dumm, eine völlig sinnlose Sorge. Mir ist nichts passiert, ihm ist nichts passiert. Aber sobald sie auf der Welt sind, ändert sich alles. Du änderst dich. Du denkst anders.«
Helen zündete sich noch eine Zigarette an.
»Das Schlimmste ist, wenn man allein mit ihnen ist«, sagte Will. »Wie einmal, als Susie einen Hustenanfall hatte. Mehr war es gar nicht. Lorraine war mit Jake irgendwo hingegangen und ich war allein mit Susie – sie war erst ein paar Monate alt – und dann fing sie an zu husten, und egal, was ich machte – ich habe ihr auf den Rücken geklopft und versucht, ihr etwas Wasser einzuflößen –, es hörte einfach nicht auf, und ich war völlig verzweifelt. Ich dachte, sie würde sterben. Ich konnte überhaupt nicht mehr rational denken. Ich stand einfach da und hielt sie, lauschte auf diesen grässlichen Reizhusten und presste sie an mich, fühlte ihre Brust an meiner Hand, jedes Mal, wenn …«
Er brach ab und drehte sich mit geschlossenen Augen um, weil er nicht wollte, dass sie sein Gesicht sah, und Helen legte eine Hand auf seine Schulter und drückte sie.
»Komm schon«, sagte sie. »Wir sollten jetzt zurückgehen.«
Ein Krankenwagen stand vor dem Haus, als sie zurückkamen. Ruth Lawson, blass und durchscheinend wie Pergament, lag angeschnallt unter einer dunkelblauen Decke auf einer Tragbahre und wurde durch den Vorgarten getragen.
Will stieg schnell aus dem Auto und rannte los, und in diesem Moment überquerte Anita Chandra das rechteckige Stück Rasen, um ihn abzufangen. Auf ihren Schuhen glitzerte der Tau.
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Eine Überdosis, Sir. Schlaftabletten. Sie wird überleben.«
»Wie …?«
»Sie ist ins Badezimmer gegangen. Sie war gerade erst aufgestanden. Ich hätte mit ihr gehen sollen. Es tut mir leid.«
Will nickte. Für einen Augenblick sah er Andrew Lawsons verschwommenes Gesicht an einem der Fenster im Erdgeschoss. Helen stand am Krankenwagen und sprach leise mit einem der Sanitäter.
»Wie geht es ihrem Mann?«
»Er hat einen Schock erlitten, glaube ich. Ihre Freundin Catriona ist im Augenblick bei ihm. Aber sie war mehr oder weniger die ganze Zeit auf den Beinen. Sie ist völlig übernächtigt.«
»Gehen Sie wieder ins Haus. Er wird ins Krankenhaus fahren wollen, stelle ich mir vor. Wenn er dem nicht
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